Der Ausweichsitz der Niedersächsischen Landesregierung

Die Versuche, geeignete Ausweichsitze zu finden, gestalten sich mitunter schwierig - wie das Beispiel der Landesregierung Niedersachsen zeigt. Auch wenn heute relevante Aktenbestände des Hauptstaatsarchivs (die als Reaktion auf eine Nutzungsanfrage nach Überprüfung des Landesinnenministeriums pauschal gesperrt wurden) nicht eingesehen werden können und Rechercheanfragen beim Innenministerium unbeantwortet bleiben, so haben die damaligen Ausweichsitzplaner dennoch Spuren hinterlassen: in Archiven der Bundesbehörden, in Notizen, Pressemeldungen, ja so gar in den Aufklärungsakten der Staatssicherheit der DDR.

Aufschluss über den ehemaligen Ausweichsitz Niedersachsens für einen Verteidigungsfall gibt erstmals dieser Vorabauszug aus Christoph Lubbes Recherchen:

Die JVA Lingen-Damaschke: Der Ausweichsitz der Landesregierung Niedersachsens?

Erste Hinweise auf die niedersächsischen Ausweichsitzplanungen finden sich in einer Korrespondenz zwischen den Bundes- und Landesinnenministerien. 1959 meldeten die Niedersachsen nach Bonn: „Die Entscheidung über Standorte von Befehlsstellen ist noch nicht getroffen worden...“ Ende 1960 hingegen schien man sich in der Landeshauptstadt Hannover sicher zu sein, für den Landesführungsstab ein geeignetes Ausweichquartier gefunden zu haben: „Der Remter an der Klosterkirche in Bersenbrück ist nunmehr endgültig als Quartier für eine Befehlsstelle der niedersächsischen Landesregierung im Notstandsfalle bestimmt worden.“ Diese Endgültigkeit hielt jedoch nicht lange, denn bereits im Herbst des darauf folgenden Jahres lauteten die Meldungen an den Bundesinnenminister wesentlich verhaltener: „Die endgültige Planung ist noch nicht abgeschlossen, es ist jedoch eine provisorische Regelung vorhanden, die Besetzung der Befehlsstelle sichergestellt.“

Ausgangslage für die Stabsrahmenübung „Gabriel77“:
„10 Tage nach Verkündigung des Verteidigungsfalles werden Wohngebiete, Verkehrsanlagen und Industrieanlagen im Raum Bückeburg-Hannover von gegnerischen Flugzeugverbänden angegriffen. In den Stadtgebieten Hannovers (…) entstanden durch den Einsatz von Spreng- und Brandbomben in Wohngebieten noch nicht übersehbare Verluste der Bevölkerung, sowie schwere Schäden an Verkehrsanlagen und Industrieanlagen. Der Einsatz von ABC-Kampfmitteln im Raum zwischen Weser und Bundesstraße 4 wurde vom Gegner angedroht.“

Der Klosterkirchen-Remter in Bersenbrück

Doch auch ohne endgültigen Ausweichsitz erfolgten bereits regelmäßig regionale und nationale Stabsrahmenübungen der zivilen Führungsstäbe der Länder und nachgeordneten Bezirke und Landkreise. Eine dieser Übungen für Kriegs- und Spannungszeiten war die niedersächsische Fernmeldeübung „Herbstwald“ vom 22.-24.10.1965. Über diese berichtete die Fachzeitschrift Ziviler Bevölkerungsschutz ausführlich. Für den Ablauf der Übung wurde der „Landesführungsstab (…) im Warnamt/Deister eingerichtet.“ Beim Warnamt/Deister nahe Rodenberg handelte es sich um den vier Jahre zuvor aufwendig errichteten unterirdischen Schutzbau des Warnamtes III. Einen wesentlich zünftigeren Standort fand man während dieser Übung für eine vorgeschobene Befehlsstelle in der Waldschänke in Garbsen.

Die Waldschänke Garbsen - im Herbst 1965 die vorgeschobene Befehlsstelle

Während man 1965 bei der Übung „Herbstwald“ noch beim Warndienst im Warnamt III in Rodenberg gastierte und die Technik eines voll ausgestatteten Schutzbauwerkes bestaunen konnte, verfügte man auch zehn Jahre später bei der Stabsrahmenübung „WINTEX 75“ noch über keinen eigenen endgültigen Ausweichsitz. Am Tag 2 der Übung verlagerte man vom Dienstsitz in Hannover gen Westen in den Block 33 der Pommern-Kaserne in Fürstenau. Wie Unterlagen belegen, waren die teilnehmenden Beamten von den Annehmlichkeiten dieses provisorischen Ausweichsitzes jedoch wenig angetan.

Nicht bequem: Die Unterkünfte in der Pommern-Kaserne in Fürstenau

Die Vermutung, dass nach einer langen Reise durch unterschiedlichste Provisorien als endgültiger Befehlsstellenstandort das emsländische Lingen auserkoren worden war, wird durch die Tatsache erhärtet, dass sowohl in den Fernmeldeunterlagen des Ausweichsitzes der Bundesregierung an der Ahr als auch im Bunker der Landesregierung NRWs in Urft eindeutig der Ortsname „Lingen“ als Ausweichsitz der niedersächsischen Landesregierung verzeichnet ist.

Große Pläne für den endgültigen Ausweichsitz

Die heutigen Hannoveraner Landeslenker verweigerten zwar eine Einsicht in die im Hauptstaatsarchiv befindlichen Altakten, doch fand sich in freigegebenen Beständen des Staatshochbauamtes Lingen ein Aktenvorgang mit dem viel versprechenden Titel „ZV - Mehrzweckanlage Lingen (Regierungsbunker)“. Der Inhalt dieses Aktenvorganges enthüllt ein außergewöhnliches (und mit 40 Millionen Mark außergewöhnlich teueres) Bunkerbauprojekt.

Lageplan der Bunkerbauwerke der Befehlsstelle der Landesregierung Niedersachsens auf dem Gelände der JVA Lingen-Damschke Lageplan der Bunkerbauwerke der Befehlsstelle der Landesregierung Niedersachsens auf dem Gelände der JVA Lingen-Damschke. In der Bildmitte, zwischen zwei Unterkunftsblöcken das Bunkerbauwerk A, westlich angrenzend und über unterirdische Verbindungsgänge verbunden, das Bunkerbauwerk B. Über den Schutzbauten befindet sich eine Schildplatte. (Risszeichnungen erstellt nach Unterlagen des LArch Osnabrück.)

Die unterirdische Schutzraumanlage war auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt in Lingen-Damaschke geplant. Dazu gehörte auch eine ebenfalls verbunkerte abgesetzte Sendestelle bei Lünne. Die Planung dieses Großprojektes beschäftigte zahlreiche Ministerien und Dienststellen. Der Hauptteil der Befehlsstelle auf dem Gelände der JVA bestand aus zwei unterirdischen monolithischen Schutzbauwerken (A und B), die alle notwendigen Arbeits- und Konferenzräume, das Lagezentrum, Fernmeldeeinrichtungen, Räume für Wache, Boten und Kuriere, einen Sanitätsbereich, eine Druckerei, Schlafräume, Küche und Technikräume enthielten. Insgesamt sollten in der Befehlsstelle 351 Mitarbeiter der Landesregierung mehrere Wochen lang alle wichtigen Regierungsgeschäfte weiterführen können. Zum Schutz der Befehlsstelle gegen Volltreffer konventioneller Waffen sollte über den Hauptbauwerken A und B neben einer Kiesschicht und Erde eine 80 Zentimeter starke, überkragende Schildplatte errichtet werden, die Berechnungen dafür übernahm der Infrastrukturstab der Bundeswehr. Bei einer Belegung des Ausweichsitzes sollte auf die bereits vorhandenen Decken, Küchengeräte und Bestecke der JVA zurückgegriffen werden. Für die abgesetzte Sendestelle in einem Waldstück westlich des Blauen Sees bei Lünne wählte man, ähnlich wie im Ausweichsitz der Landesregierung NRW bereits umgesetzt, einen leicht modifizierten Typbunker einer Rundspruchsende- und Richtfunkverbindungsstelle des Warndienstes. Dieses Schutzbauwerk sollte, wie auch die Hauptbunkerbauwerke A und B in Lingen gegen die Auswirkungen eines elektromagnetischen Impulses einer Kernwaffendetonation abgeschirmt werden. Als Bauzeit wurden für das Gesamtprojekt 40 Monate angesetzt.

Die Abteilung HVA, zuständig für die Auslandsspionage des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, zeigte übrigens ein reges Interesse an den Ausweichsitzplanungen der militärischen sowie zivilen Führungsstäbe der BRD. Dabei war die HVA meist erstaunlich gut informiert, jedoch auch nicht frei von Fehleinschätzungen. Den Ortsnamen Fürstenau hatte sie als Standort während der Übung „WINTEX 75“ ermittelt, aber vorerst fälschlicherweise dem zu Peine gehörenden gleichnamigen Ortsteil Fürstenau bei Woltorf zugeordnet. Ab 1979 wurde dieser Fehler behoben und durch Fürstenau im Landkreis Bersenbrück ersetzt. In einem letzten Bericht vor dem Zusammenbruch der DDR hatten die Aufklärer der HVA 1989 als neuen Befehlsstellenstandort der niedersächsischen Landesregierung die Stadt Lingen an der Ems ausgemacht. Eine richtige und zugleich doch falsche Angabe, die im gleichen Jahr auch der Journalist Michael Preute in seinem Buch „Der Bunker - eine Reise in die Bonner Unterwelt“ veröffentlichte.

Der Ausweichsitz Niedersachsens im Visier des MfS. (Auszug aus den Aufklärungsunterlagen der HVA)

Wer heute in der JVA in Lingen-Damaschke einen aufwendig verbunkerten Ausweichsitz sucht, wird enttäuscht werden. Dort, wo sich eigentlich gut geschützt vor einem befürchteten Dritten Weltkrieg zahllose Arbeits- und Technikräume befinden sollten, existieren lediglich über Jahrzehnte gewachsener Baumbestand und die anstaltseigene Minigolfanlage mit einem gemütlich-rustikalen Verleihhäuschen. Auch von einer Sendestelle am Blauen See in Lünne fehlt jede Spur.

Vergeblich: Die Spurensuche nach dem Phantom »Ausweichsitz Niedersachsen« auf dem Gelände der JVA DamaschkeTennisplatz und Bäume statt Beton und Bunkertechnik

Neue Osnabrücker Zeitung vom 27.1.1993Doch was ist aus den ehrgeizigen Bunkerplanungen der niedersächsischen Landesregierung letztendlich geworden? Aufschluss darüber gibt eine Kurznotiz der Neuen Osnabrücker Zeitung aus dem Jahre 1993 mit der originellen Überschrift: „Landesregierung scheut den Gang in den Knast - Pläne für Bunker in Lingen endgültig begraben.“ Aus finanziellen Gründen wurden bis zum Ende des Kalten Kriegs die üppigen Ausweichsitzplanungen nicht umgesetzt. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung geriet das Projekt völlig in Vergessenheit - allerdings auch die bereits seit den 1980er Jahren dafür angemieteten Fernmeldeleitungen nach Lingen, die bereits eine Verbindung in die Ausweichsitze der Bundesregierung und der Landesregierung NRWs sicherstellten. Somit wurden von den Plänen der niedersächsischen Landesregierung lediglich sieben Telex- und 13 Fernsprechanschlüsse umgesetzt. An die dafür jährlich anfallenden Leitungsgebühren von 9.000 DM erinnerte man sich erst 1993 eher zufällig und stellte diese Zahlungen und damit das Gesamtprojekt endgültig ein. Neben den Fernmeldeleitungskosten verschlang das Vorhaben „Ausweichsitz Niedersachsen“ in der Projektphase bis zum Frühjahr 1980 Planungskosten in Höhe von 832.000 DM.

Nei realisiert: Bauwerk A Nur geplant, nie gebaut: Das Bunkerbauwerk A in der JVA Lingen-Damaschke. Maße: 28,20 m x 25,65 m (Kompaktbau), 51,50 m x 10,20 m (westl. Längsbau), 61,55 m x 10,20 m (östl. Längsbau); Wand- und Deckenstärke 50 cm, Innenwände 25 cm; EMP-Schutz, Schildplatte. Räume: Stabsarbeitsräume, Lagezentrale, Schlafzimmer Ministerpräsident, Sanitärräume, Küche, Notstrom, Technik. (Risszeichnungen erstellt nach Unterlagen des LArch Osnabrück.)

Auszug aus den Quellenangaben:
- Fachinformationsstelle des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Sign.: Ga 1536, ohne Blattnummer
- Herbst, Gerd (1966): Kennwort: „Herbstwald“; in: Ziviler Bevölkerungsschutz, Heft 1, 1966, S. 12
- HStA Hannover, Akte Nds.120 Hildesheim Acc 25/76 Nr.4
- LArch Osnabrück, Rep 660 Lin Akz. 2008040 Nr. 1
- BA-MA; DVW1/32661c
- BA-MA; DVW1/94197
- BA-MA; DVW1/42521
- Preute, Michael (1989): Der Bunker - Eine Reise in die Bonner Unterwelt
- o. V. (1993): Landesregierung scheut den Gang in den Knast - Pläne für Bunker in Lingen endgültig begraben; Neue Osnabrücker Zeitung, 27.01.1993

 


Bunker aus dem Kalten Krieg - Wie Westdeutschland den 3. Weltkrieg überleben wollteDiesen Bericht mit weiteren Grundrisszeichnungen und Dokumenten sowie zahlreiche weitere interessante Berichte über teils noch unbekannte Ausweichsitze und sonstige Schutzbauwerke des Zivilschutzes und der Zivilverteidigung finden Sie in Christoph Lubbes Buch

Bunker aus dem Kalten Krieg - Wie Westdeutschland den 3. Weltkrieg überleben wollte

Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
Verlag: Motorbuch, April 2013
ISBN 3613035499

Tags: Ausweichsitz, Landesbunker, Regierungsbunker