Die letzten Spuren der "Kreisirrenanstalt", später AWO Kinderheim, am Haidkamp in Pinneberg

Zivile und sonstige Bauten mit geschichtlichem Hintergrund und deutlichem Bezug zu den Fachthemen, die jedoch nicht eindeutig zuzuordnen sind
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Deichgraf63
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Die letzten Spuren der "Kreisirrenanstalt", später AWO Kinderheim, am Haidkamp in Pinneberg

Beitrag von Deichgraf63 » 19.01.2015 11:43

Hallo,
das nicht mehr existierende Backsteingebäude http://www.kinderqualen.de/uploads/pics ... 16grey.JPG wurde 1895 errichtet.
Es stand am Ende vom Haidkamp im Ortsteil "Pinnebergerdorf", ganz am Ortsende.
Auf der Karte von 1927 http://greif.uni-greifswald.de/geogreif ... 7Kopie.jpg sind noch mehr Gebäude zu sehen.
Möglicherweise waren es landwirtschaftliche Gebäude.
Da der Eingang zum Leca Betonwerk um 1961 vom Haidloh aus erfolgte, könnte dieser Betrieb die Gebäude noch genutzt haben.
Es existieren heute noch 3 größere Wohngebäude direkt am Haidkamp links neben dem ehemaligen Eingang, die es bereits auf der Karte von 1927 gab.
Ich weiß, dass diese Gebäude (einst?)dem Kreis gehörten und dort Mitarbeiter vom Kreis wohnten.
Wegen der Nähe zu der Einrichtung dürfte es sich um Wohnungen für ein Teil des Personals gehandelt haben.
Auf der Karte steht die Bezeichnung "Krankenanstalt", das eigentliche Pinneberger Krankenhaus war es aber nie.
Im Volksmund hieß es immer "Kreisirrenanstalt", diese Bezeichnung gibt es auch in einem Jahrbuch über den Kreis Pinneberg, meine ich.
Es ist zu vermuten, dass man die Insassen der Anstalt in der Landwirtschaft eingesetzt hat.
Bis 1945 wurden dort erwachsene Menschen untergebracht und im 3.Reich "verstarben" auffällig viele Personen in der Einrichtung, wird behauptet.
Dazu gibt es Zeitzeugenberichte (im Internet zu finden) von einem Heimkind, das im Turm des Gebäudes Unterlagen aus der Zeit fand.
Ich versuche, da diesen Zeitzeugen zu finden, von dem ich glaube, dass ich ihn von früher kenne.
Glaubhaft ist das, da im 3.Reich geistig und körperlich behinderte Menschen als "Lebensunwertes Leben" galten und mit System umgebracht wurden.
Um 1961 wurde von der Einrichtung immer verharmlosend als ehemaligem "Kreisbauernhof" gesprochen, so meine Erinnerung (Wir wohnen dort zu der Zeit nur wenige hundert Meter weit entfernt).
Von 1947 bis 1969 befand sich auf dem nunmehr nur noch 4 ha großen Gelände ein Kinderheim, ab 1958 unter der Regie der AWO.
Wann die Schulbaracke, die auf dem Foto zu sehen ist, gebaut wurde, ist mir nicht bekannt.
Nach den Schilderungen aus der AWO Zeit gab es im Hochkeller (hoher Grundwasserstand dort) des Gebäudes zwei echte Knastzellen, von denen eine in der Zeit als Kinderheim genutzt wurde.
Zur Strafe wurden Kinder oder Jugendliche dort im Keller eingesperrt, so Zeitzeugen im Internet.
Die Flächen samt Ackerland wurden etwa ab 1950 langsam mit Häusern, einem Leca Betonwerk, einem Gewerbegebiet und später der A 23 überbaut.
In der Zeit als Kinderheim wurden dort Menschen zwar nicht getötet, aber gequält und schlimm misshandelt, siehe zahlreiche Berichte dazu im Internet.
Den damaligen Heimleiter, Horst H. (Spitzname Bossi) kenne ich über seine Kinder persönlich, er war damals berüchtigt und gefürchtet.
Später wurde der Mann vom Saulus zum Paulus und gibt an, sich an die Übergriffe und Zustände im Heim nicht mehr erinnern zu können.
Wir hatten um 1965 zwei Mädchen in unserer Klasse, die aus dem Heim kamen (dort gab es nur Schulunterricht für Volksschüler).
Das eine Mädchen, Doris G., fehlte mindestens zweimal länger, weil "es eine Nadel verschluckt" hatte.
Damals konnte ich mir das nicht erklären: Es war aus heutiger Sicht möglicherweise ein Suizidversuch, zumindest wollte das Mädchen aus dem Heim rauskommen.
Das Haus hat also eine ziemlich dunkle Geschichte gehabt, wobei über die Zeit bis 1945 fast nichts zu erfahren war.
Warum das historische Gebäude um 1970 abgerissen wurde, ist unklar.
Nach wie vor ist das Areal teilweise unbebaut.
Meine Fotos zeigen den ehemaligen Eingang, der noch immer existiert und die großen Linden auf dem Gelände.
Zumindest in der Zeit als Kinderheim dürfte das Areal nicht (mehr?) eingezäunt gewesen sein.

Ich würde mich freuen, wenn mein Beitrag durch andere User hier ergänzt wird.

Deichgraf63
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Deichgraf63
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Beitrag von Deichgraf63 » 21.01.2015 19:06

Hallo,
ich habe Kontakt mit dem Zeitzeugen (den ich tatsächlich kenne) aufnehmen können.
Er hat mir noch mehr Details geschrieben, über das was er damals in Krankenakten und Belegbüchern gelesen haben will.
Es gab wohl sehr viele "Zu-und Abgänge", was in die Zeit passen würde, wo Patienten derartiger Einrichtungen in den letzten Jahren gezielt "entsorgt" wurden.

Die ganze Größe von dem Hauptgebäude sieht man hier http://www.abendblatt.de/img/pinneberg/ ... amburg.jpg recht gut, der ganze Komplex bestand laut Karte aber sogar aus 5 Gebäuden.
Der Baum rechts steht noch und ist auf meinem Foto zu sehen.

Wie viele Patienten mag man damals dort untergebracht haben?

Ansonsten habe ich noch keine neuen Fakten über diese Einrichtung, aber verschiedene Archive angeschrieben.
Ob das Erfolg hat, werde ich sehen.

Gruß Deichgraf63

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Beitrag von Deichgraf63 » 16.03.2015 14:56

Hallo,
etwas Erfolg hatte ich.
Im Stadtarchiv Pinneberg gab es Spuren von dieser Einrichtung, meinen herzlichen Dank an den netten Mitarbeiter dort.
Demnach war die Eröffnung bereits 1889 und nicht 1895.
Der Abriss des Gebäudes erfolgte laut Stadt Pinneberg am 18.4. 1975.
Es existiert noch eine Bauakte über das Gebäude, die ich auf Wunsch einsehen könnte.

Weiterhin völlig im Dunkeln bleibt die Zeit im 3. Reich.
Trotz mehrfacher Telefonate mit dem Kreisarchiv des Kreises Pinneberg gab es von dort keine Rückmeldungen außer dem Hinweis, im Landesarchiv Schleswig nachzufragen.
Dort meinte man, die Krankenakten etc. dürften nach Auflösung dieser Einrichtungen auf Kreisebene zum Landeskrankenhaus Heiligenhafen gelangt sein.
Da das Gebäude erst 1975 abgerissen wurde, ist es unwahrscheinlich, dass es hierüber keinerlei Unterlagen mehr beim Kreis geben soll.

Auch die Presse traut sich an das Thema scheinbar nicht ran.
Meine einzige Hoffnung ist, dass die Geschichtswerkstatt Pinneberg das Thema aufgreift.
Da ist das 3.Reich kein Tabuthema, auch wenn örtliche Persönlichkeiten nicht gut wegkommen.

Anbei ein paar Fotos und Kopie vom Werbeprospekt von 1889.

MfG Deichgraf63
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Djensi
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Beitrag von Djensi » 17.03.2015 17:16

Moin,

interessantes Thema! Die Eingangspfeiler scheinen aber später erneuert worden zu sein, denn auf den alten Fotos sind diese noch verputzt, haben kleine "Dächer " und Farbblenden.

Selbstverständlich wurden im 3. Reich die Klienten "entsorgt". Die Todesursachen werden "Klassiker" wie Lungenentzündung oder andere Infektionskrankheiten gewesen sein. Häufig wurden die Klienten auch zur "Genesung" in auswärtige "Anstalten" verbracht. So wurden die Insassen einer direkten Kontrolle durch wohnortnahe Angehörige entzogen. In den ortsfernen Einrichtungen sind sie dann "plötzlich verstorben". Offizielle Verbringungen in KZ´s waren seltener und erst in den späteren Kriegsjahren üblich, als die Versorgungslage schwierig wurde oder Diagnosen wie z. b. "gänzlich schwachsinnig und nicht lebenswert, in seiner Existenz dem Volkswohl schädlich" aufgestellt wurden

Die Geschichten solcher Anstalten gleichen einander. Die Tötungssystematik war so "perfekt" und gründlich, dass Einrichtungen, Sozialhilfeträger usw. nach der Jahrstausendwende mit dem "Problem" behinderter (stationär oder in Wohngruppen untergebrachter) Menschen im Rentenalter erstmalig konfrontiert wurden. Das war in den Nachkriegsjahrzehnten sonst überhaupt kein Thema und zeigte sich als Spätfolge des Nationalsozialismus.

Es gibt eine Aufarbeitung der ehem. Alsterdorfer Anstalten zu dieser Zeit - erschütternd und ein Abbild dessen, was landauf-landab mit behinderten Menschen im 3. Reich passiert ist.
(Habe nur einen amazon-link zur Hand: http://www.amazon.de/dieser-schiefen-Al ... 3760004555


Grüße
Djensi

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Beitrag von Zaquarta » 07.04.2015 16:30

Es liest sich wie ein Horrorroman. Unglaublich, dass so etwas noch in den 60ern passieren konnte.

Kennt man den Grund, weshalb das Heim 1969 dicht gemacht wurde?
mein Benzin - Gasolin ;-)

Deichgraf63
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Beitrag von Deichgraf63 » 08.04.2015 11:40

Hallo,
das AWO Heim ist nur in die Aschhooptwiete in Pinneberg umgezogen, samt dem Personal und dem berüchtigten Heimleiter Horst Hager.
Wie auch sonst in Schule und Elternhaus liberalisierte sich der Umgang mit Kindern und Jugendlichen ab Ende der sechsziger Jahre. Das Prügeln etc. ging massiv zurück.
Außer sexueller Gewalt habe ich selbst im Elternhaus und hin und wieder in der Schule nicht weniger Gewalt erlebt, als die Kinder im beschriebenen Heim.
Hose runter und dann tobte sich mein Vater mit dem Rohrstock auf dem nackten Hintern aus: Das hat er unzählige Male getan, fast immer aus nichtigem Grund.
Nicht selten wurde ich auch nachts aus dem Bett geholt und dann so zusammengeschlagen.
Im Sportunterricht war das "Ergebnis" dann zu sehen, das war mir so peinlich
Das ging etwa so bis ich 16/17 Jahre alt war. Bei der letzten Prügelorgie war ich ganz knapp davor, mich zu wehren. Aber dann wäre ich sicher in ein Heim gekommen, womit meine Eltern immer wieder drohten.
Würden Eltern das heute ihren Kindern antun, wäre dafür mit Sicherheit Gefängnis ohne Bewährung fällig.

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