Zeitz heilt keine Wunden

Zivile und sonstige Bauten mit geschichtlichem Hintergrund und deutlichem Bezug zu den Fachthemen, die jedoch nicht eindeutig zuzuordnen sind
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Christin

Zeitz heilt keine Wunden

Beitrag von Christin » 08.05.2011 16:41

Die Gegend gefällt mir. Sogar ausgesprochen gut. Vielleicht etwas viel Rapsodie auf den Äckern, landschaftlich aber supertoll. Und die Ruhe ist märchenhaft schön. Ich buche also ein Hotelzimmer in Draschwitz und schaue mir Zeitz und Umgebung etwas näher an. Viel Zeit habe ich nicht, nur Freitag abend und Samstag früh, dann geht's zurück nach Hamburg.

Dort in und um Zeitz kann ich nicht glauben, was ich sehe. Zunächst: Der eingangs genannte Mitarbeiter hat nicht die Wahrheit gesagt. Zwar kann ich tatsächlich keine einzige alte Tankstelle entdecken. Allerdings habe ich bisher nirgendwo sonst so dermassen viele „lost places“ entdeckt wie hier.

Das ist schier unglaublich: Gefühlte achtzig Prozent des Ortes bestehen aus leer stehenden, verfallenen Gebäuden, die leise wimmernd vor sich hin gammeln. Und das offenbar schon seit sehr vielen Jahrzehnten. Ob da noch was mit Wachküssen ist, muss bezweifelt werden.

Bergbau- und Industriebauten, Lagerhallen, Ladenlokale, zum Teil wunderschöne Wohngebäude, selbst Schrebergartenhäuser, Grundstücksmauern, Garagen: Unzählige Bauwerke sind offenbar einer Art „Ignoranzkrebs“ zum Opfer gefallen und scheinen sich nun in dessen Endstadium zu befinden.

Immobilienwerte, Stadtplanung, Werterhalt, Gentrifizierung, Tourismus oder Geschichte hin oder her -- die Verantwortlichen in Rathaus, Ämtern und Grundbesitzervereinen scheinen seit inzwischen fast einem ganzen Menschenleben durchweg mit verrotteten Tomaten auf den Augen in ihren Amtsstuben zu sitzen und in diesem Punkt nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. Und überhaupt noch nie getan zu haben. Ich bin wirklich erschüttert und traurig, dass so etwas möglich ist. Schmeisst sie raus, jagt sie zum Teufel! Warum habt Ihr das nicht längst schon getan?


Im Hotel kann ich mit einem Angestellten über das Thema sprechen und frage ihn u.a., was denn Lokalpolitik und Stadtplaner zu dem Thema sagen? Wie sie damit umgehen, brauche ich ja offensichtlich gar nicht erst fragen.
„Die finden ausnahmslos jede Gelegenheit, um das Thema zu ignorieren, drum herum zu reden oder bestenfalls zu ‚beschönigen‘. Eine Zeitlang haben sie versucht, die Verantwortung für solche Gebäude auf eine Reihe diverser ‚Trägervereine‘ abzuwälzen, auch ich war ehrenamtlich in einem solchen Verein. Nur haben sie dann nach und nach all diesen Vereinen den Geldhahn zugedreht und damit gab es für uns eben auch fast keine Möglichkeit mehr, dieser Aufgabe nachzugehen.“

Und wie leben die Menschen damit, die hier wohnen? Das muss doch -- jedenfalls auf Dauer -- hoch frustrierend sein?
„Viele haben sich damit abgefunden. Sie sehen es nicht mehr, zumindest nehmen sie es nicht mehr wahr. Andererseits gibt es hier in Reihen einiger Immobilien-Eigentümer die zweifelhafte Denk- und Handlungsweise, dass sie immer mehr und mehr haben wollen, ohne aber jemals in Erhalt investiert zu haben. Und das hat nichts mit der ‚Wende‘ zu tun. Dieser Zustand war auch vorher schon da. Lange Zeit.“

Wie kann man etwas, was man täglich an jeder Ecke sieht und was einen so bedrückenden Eindruck hinterlässt, nicht mehr wahrnehmen?
„Viele hier haben keine Arbeit. Die gehen statt dessen täglich zum Discounter, kaufen massenweise Alkohol und verschnabulieren diesen kollektiv. Dann klappt das auch mit dem Nicht-wahrnehmen. Und diejenigen, die das nicht tun, haben wohl irgendwie verinnerlicht, dass es halt so ist wie es ist. Und bewegen sich auch nicht.“

Er schaut seine Kollegin an und ergänzt: „Das Jugendzentrum haben sie auch geschlossen, und nun soll auch noch das Kino weg.“

Und wie halten Sie das aus?
„Ich wohne nicht in Zeitz und fahre dort auch nicht hin. Ich liebe die Ruhe in dem Ort, in dem ich lebe. Und wenn ich mal Kultur oder sprühendes Leben brauche, fahre ich nach Leipzig. Sollten Sie auch mal tun, anstelle ausgerechnet in Zeitz herumzukurven, wirklich!“


Also: Von den irgendwann versprochenen „blühenden Landschaften“ kann ich hier absolut nichts erkennen. Eher vom „blühendem Alptraumland mit alten Zeichen an der Wand...“ (Marianne Rosenberg, Album „Feuerrosen“, 1993).

Der Hotelmitarbeiter hat die Situation also treffend beschrieben: Viele Menschen nehmen es nicht mehr wahr -- siehe z.B. den eingangs erwähnten Mitarbeiter, dessen Aussage nach es keine „lost places“ hier gebe. *Pruust!* Und wenn man sich die bunten Flyer der Lokalmatadore der Touristikverbände anschaut, hat er ebenfalls recht mit seiner Schilderung: „Die finden ausnahmslos jede Gelegenheit, um das Thema zu ignorieren.“

Traurige Sache, das. Unbegreiflich geradezu. Vor allem aber: Nicht akzeptabel.

LG
Christin
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"Die Zensur ist die jüngere von zwei schändlichen Schwestern,
die ältere heißt Inquisition." (Johann Nepomuk Nestroy)
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Christin

Re: Zeitz heilt keine Wunden

Beitrag von Christin » 08.05.2011 17:11

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Christin

Re: Zeitz heilt keine Wunden, Teil 2

Beitrag von Christin » 08.05.2011 17:34

Moin!

Zum Ausgleich :-) hier schnell einerseits ein paar Eindrücke der Landschaft und so.

Andererseits: Wenn man sich einige der durchaus imposanten Grabstätten auf dem Friedhof von Draschwitz anschaut, könnte man auf den Gedanken kommen, dass es hier früher eine Reihe Familien gegeben haben muss, die keinerlei Geldsorgen gehabt zu haben schienen. Fragt sich dann nur, warum sie die ganze Kohle in ihre eigenen Gräber investiert haben und nicht in den Erhalt ihrer ehemals schönen Häuser ;-).

Und wieso habe ich im „Burgenlandkreis“ eigentlich keine einzige Burg gesehen? Sind die schon längst und vollkommen und weit vor den „lost places“ zu Staub zerfallen? ;-)

LG
Christin
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bettika
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Beitrag von bettika » 08.05.2011 21:47

Hallo Christin,
beeindruckende Bilder mit einer persönlichen und kreativen Kommentierung :thumbup:
Das gehört für mich zu den "Geschichtsspuren" dazu.
Ich hoffe Du hast die Tage im "Burgenland" trotzdem geniessen können.
Grüsse
bettika
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Re: Zeitz heilt keine Wunden

Beitrag von violette » 24.06.2011 14:53

Christin hat geschrieben:Die Gegend gefällt mir. Sogar ausgesprochen gut. Vielleicht etwas viel Rapsodie :-) :-) auf den Äckern, landschaftlich aber supertoll. Und die Ruhe ist märchenhaft schön.

Das ist schier unglaublich: Gefühlte achtzig Prozent des Ortes bestehen aus leer stehenden, verfallenen Gebäuden, die leise wimmernd vor sich hin gammeln. Und das offenbar schon seit sehr vielen Jahrzehnten. Ob da noch was mit Wachküssen ist, muss bezweifelt werden.

„Also: Von den irgendwann versprochenen „blühenden Landschaften“ kann ich hier absolut nichts erkennen. Eher vom „blühendem Alptraumland mit alten Zeichen an der Wand...“ (Marianne Rosenberg, Album „Feuerrosen“, 1993).

Traurige Sache, das. Unbegreiflich geradezu. Vor allem aber: Nicht akzeptabel.
Hi Christin,

interessanter Bericht. Ist ja irgendwie paradoxal, finde ich, dass eine so traurige Sache gleichzeitig auch irgendwie faszinierend sein kann. War noch nicht oft im Osten, aber mir ist der Unterschied auch sofort aufgefallen, was baufällige Gebäude angeht. Mir fiel dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Wollseifen ein, ein verlassenes Dorf, das mir neulich überm Weg lief. Leider keine eigene Bilder.

Gruß, Vi

isch
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Beitrag von isch » 24.06.2011 18:25

Hallo Christin,

schön das Du mal einen Zwischenstopp in meiner Geburtsstadt eingelegt hast. Es ist wirklich ein Jammer was aus Zeitz geworden ist.
Dabei hat man in den letzten Jahren schon erkannt das es so nicht weiter gehen kann. Aber was willst Du machen? Viele Altbauten waren schon zu DDR - Zeiten für den Abbruch reif gewesen. Und nach der Wende musste dann auch hier alles wirtschaftlich werden. Also wurde erst einmal nichts mehr investiert.
Die größten Betriebe gibt es ja auch so nicht mehr:
Zetti: Hat zwar noch seinen Sitz in Zeitz, produziert wird aber heute in Polen und Tschechien.
Zekiwa: Die Kinderwagen gingen einst mal nach ganz Europa, nur in DDR waren sie schwer zu bekommen. Heute dürfte es wohl ein kleiner Betrieb sein.
Zemak: TAKRAF - Kräne waren auch Europaweit bekannt, ist heute auch ziemlich geschrumpft.
Da kannst Du echt froh sein das es die Braunkohlenindustrie (Mibrag) heute noch gibt.
Ich glaube Zeitz hat in den letzten 20 Jahren die Hälfte an Einwohnern verloren.

So, jetzt noch was zu den Sehenswürdigkeiten.
In Zeitz gibt es das Schloss Moritzburg. http://www.zeitz.de/index.php?id=146018001838
Richtige Burgen gibt es z. B. bei Bad Kösen an der Saale oder auch sehr bekannt der Dom in Naumburg. Mehr ist ja über den Link zu erfahren.

MfG

petzolde
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Beitrag von petzolde » 25.06.2011 09:55

Da fällt mir ein altes Lied ein:
An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn,
ihre Dächer sind zerfallen, kühler Wind pfeift durch die Hallen, ....
Also setzte der Burgenzerfall wohl schon weit vor der DDR ein, bzw. es gab zu DDR-Beginn evtl. (fast) keine Burg mehr.
Namen halten sich manchmal, so wie viele "Bahnhofstraßen" in kleinen Orten, obwohl dort die Bahn schon seit Jahrzehnten abgebaut und vergessen ist.
gruß EP

thomasR39z
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Beitrag von thomasR39z » 12.10.2018 08:10

Die Feststellung, das der Burgenlandkreis keine Burgen besitzt, oder diese wahrscheinlich alle verschwunden sind kann so nicht im Raum stehen bleiben. Kein kreis im witeren Umkreis hat so viele Burgen wie der Burgenlandkreis. Da dies im Mittelalter deusxches Gernzbesiedlungsgebiet zu den damals hier lebenden Sorben war, hatte fast jede Ansiedlung an Saale 8 Unstrut( und Elster eine Burg oder eine Befestigung. Man muss sich natürlich mit der Geschichte beschäftigen und nicht von der Befragung einzelner Personen schlussfolgern.
Mal eine kurze unvollständige Aufzählung von Burgen oder hemaligen Standorten in der Umgebung von Zeitz.

Burgen / Schlösser:
-Droyssig Altes Schloss auf den Grundmaurern einer Burg, die an die Bauweise der Templer
angelehnt ist
- Zeitz Schloss alte Bischofsburg, dann Herzogsschloss
- Haynsburg, Bischofsburg der Bischöfe von Zeitz/ Naumburg
- Wasserburgen oder deren Reste in Wildenborn, Etzoldshain, Lindenberg. Ostrau Göbitz
- alte Wallanlagen und Reste der Kempe und der Konradsburg in Breitenbach( alte
Königspfalzen
- Schloss in Heuckewalde auf den Resten einer Wasserburg

In jedem Dorf befand sich mindesten ein Rittergut.

usw...
Das ist nur eine Aufzählung aus der näheren Umgebung, in Richtung Saale und Unstrut ist
die Dichte teilweise noch höher.


Zu der Feststellung das Zeitz eine sehr ruinöse Stadt ist , kann ich nur zustimmen, aber welche Chance hat eine Region, bei der in kürzester zeit, fast alle Fabriken zugemacht oder abgewickelt wurden und über 3/4 der Arbeiter plötzlich auf der Straße standen. und demzufolge auch wegzogen. Sozialpläne und abgefederte Sozialpläne sowie Entwicklungspläne für einen Strukturwandel Fehlanzeige.!

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