Rostock - ehemalige S-Bahnlinie 3

Verkehrsgeschichte - Bauwerke der Bahn, U-Bahn, S-Bahn etc.
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Gerfried Eisen
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Rostock - ehemalige S-Bahnlinie 3

Beitrag von Gerfried Eisen » 27.05.2019 13:09

Hallo allerseits,
an dieser Stelle möchte ich gerne an die stillgelegte Rostocker S-Bahnlinie 3 erinnern.

Sie ist ein gutes Beispiel für verfehlte „Nachwende-“ Verkehrspolitik im Zusammenhang mit regionalem Strukturwandel. Die Geschichte der Strecke ist eng verbunden mit dem Bau des Rostocker Überseehafens und der Entwicklung der nordöstlichen Stadtteile Rostocks.

Baubeginn für den Rostocker Überseehafen war im Oktober 1957.

Als sogenannte Vor-Ort-Bahn bestand bereits eine Verbindung vom Rostocker Hauptbahnhof über die nordwestlichen Industriegebiete in Bramow und Marienehe zu den im Nordwesten der Stadt entstehenden neuen Wohngebieten und weiter bis nach Warnemünde. Aus Warnemünde kommend wurden diese Züge ab 1959 vom Rostocker Hauptbahnhof bis zum entstehenden Rostocker Überseehafen weitergeführt. Zunächst provisorisch, denn der Überseehafen nebst des neu entstehenden Güterbahnhofes war eine Großbaustelle. Am 30.04. 1960 wurde der Überseehafen zwar offiziell eingeweiht – fertig war er jedoch noch nicht – erst 1969 entstand die Endhaltestelle der S-Bahn- Strecke im Überseehafen Nord in seiner heutigen Form.

Parallel zur Großbaustelle Überseehafen wurde am neuen Güterbahnhof gebaut, der sich unmittelbar südlich an das Hafengelände anschloss (der alte Güterbahnhof in der Innenstadt lag zu ungünstig für den Hafenumschlag). Die gesamte Bahntrasse vom Rostocker Hauptbahnhof zum Überseehafen war ausschließlich für den Güterverkehr optimiert – was die Streckenführung weit ab von den Wohngebieten erklärt. Praktischerweise führte man auf einem Teil der Gleise den Personenverkehr für die Berufspendler durch.

1974 wurde der getaktete Personenverkehr eingerichtet und erst seit diesem Zeitpunkt kann man – streng genommen – von einer S-Bahn sprechen. Allerdings wurde die Strecke vom Hauptbahnhof zum Überseehafen erst 1987 in den S-Bahn-Tarif einbezogen!

Im gesamten S-Bahn-Verkehr waren vorrangig Doppelstockzüge im Wendebetrieb im Einsatz, angetrieben von Diesellokomotiven. Die Elektrifizierung der Strecke erfolgte erst 1985.

Nach 1989 änderte sich die wirtschaftliche Situation dramatisch: die gesamte Rostocker Industrie brach zusammen, die Bevölkerung der Stadt schrumpfte in Folge dessen um 30% und der Bedarf an der Beförderung von Berufspendlern im Stadtgebiet und im Umland sank drastisch. Hinzu kam die für einen öffentlichen Nahverkehr eher ungünstige Streckenführung, die am östlichen Stadtrand die Stadt eher umfuhr, was recht lange Fußwege zu den Haltepunkten zur Folge hatte.

1990 gab es Pläne, Straßenbahn und S-Bahn zusammenzuführen und das Streckennetz mit einer Zwei-System-Bahn zu befahren. (Ein Verbindungsgleis zwischen Straßenbahn und S-Bahnnetz besteht noch immer im Rostocker Stadtteil Dierkow).

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Diese Idee wird seit 2007 jedoch nicht weiter verfolgt.

1995 wurde der Eisenbahn-Fährverkehr nach Dänemark von Warnemünde aus eingestellt und sämtlicher Fährverkehr nach Skandinavien wurde nun ausschließlich im Rostocker Überseehafen abgewickelt. Für die Anbindung des Fähranlegers an die S-Bahn wurde Ende der 1990er Jahre extra ein Gleis gebaut, denn die Endhaltestelle Rostock Seehafen Nord lag ca. 800 m vom Fährterminal entfernt. Das neue Verlängerungsgleis war jedoch nicht elektrifiziert (das wurde „vergessen“); aus diesem Grunde konnte die elektrisch betriebene S-Bahn das neue Gleis nicht befahren.
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Nunmehr wurde der S-Bahn-Betrieb auf der Linie 3 ab 2003 auf Dieselbetrieb umgestellt – um den Gleisanschluss zum Fähranleger zu nutzen. Inzwischen war dieses Gleis jedoch zum großen Teil asphaltiert worden (also gar nicht mehr benutzbar), so dass auch weiterhin die S-Bahn nur – weit abgelegen vom Fährterminal und potenziellen Fahrgästen – am bisherigen Haltepunkt endete.

Zwischenzeitlich wurde die Reaktivierung des innerstädtischen Friedrich Franz Bahnhofes diskutiert mit einer Einbindung in die Streckenführung der S-3. Ein für einige Monate probeweise durchgeführter Testbetrieb war durchaus erfolgreich – doch wider Erwarten wurde weder der Innenstadtbahnhof (Friedrich-Franz-Bahnhof) reaktiviert, noch bestand ernsthaftes Interesse an der Steigerung der Attraktivität der S-Bahnstrecke. Die Idee der Reaktivierung und Einbindung eines innerstädtischen Personenbahnhofes wurde auf Betreiben der Deutschen Bahn endgültig verworfen, und das gesamte Areal um den Friedrich-Franz-Bahnhof völlig umgestaltet.

So schließt sich der Kreis aus unattraktiver Strecke, verpassten Chancen, gravierenden Fehlern und sinkenden Fahrgastzahlen. In der Folgezeit wurde die Taktzeit nach und nach verkürzt, von zunächst 7,5 min auf letztlich alle 30 min, was die Strecke noch unattraktiver machte.

Zuletzt fand nur noch ein verkürzter S-Bahn-Betrieb statt: der Überseehafen wurde gar nicht mehr angefahren, die S-Bahn endete am Haltepunkt Hinrichsdorfer Straße.

Im Dezember 2012 wurde der Betrieb auf der S-Bahnstrecke endgültig eingestellt.

Die Streckenführung:

km 0,0 Rostock Hauptbahnhof
Bis zum Haltepunkt Kassebohm nutzte die S-Bahn die Streckenführung der Regionalbahn Richtung Stralsund.

km 2,6 Kassebohm
Heute noch genutzter Haltepunkt der Regionalbahn in Richtung Stralsund - das Gleis Richtung Überseehafen zweigt kurz hinter Kassebohm ab.
Kassebohm hatte bis 1989 noch einige Bedeutung als lokaler Güterumschlagpunkt für eine Chemiefabrik, eine Zuckerfabrik und eine Molkerei - von den alten Bahnanlagen einschließlich kleiner Drehscheibe ist heute nichts mehr zu sehen.

km 5,7 Haltepunkt Dierkow
Baubeginn für die Plattenbausiedlung Dierkow war 1983 bei einer Bauzeit von vier Jahren. Die neue Siedlung machte eine Anbindung an den Nahverkehr erforderlich – die Bahngleise verliefen zwar nur am nördlichen Rand der Siedlung, dennoch wurde hier schon 1983 einer neuer Haltepunkt eröffnet: Dierkow Hp. Gleichzeitig wurde der bisherige Haltepunkt der S-Bahnlinie 3 Dierkow West umbenannt in Hinrichsdorfer Straße. Seit 2012 hat der Bahnsteig keinen Zughalt mehr gesehen.
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km 7,4 Hinrichsdorfer Straße (ehemals: „Dierkow West“ und „Überseehafen Süd“)
Die Rostocker Stadtteile Dierkow-West und Dierkow – Ost haben ihren Ursprung in der Zeit, als für die Arbeiter und Angestellten der Heinkelwerke neue Stadtteile errichtet wurden. Dierkow-West entstand ab 1934, Dierkow-Ost ab 1935. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr erfolgte über eine Straßenbahnlinie. Die Plattenbau-Siedlung Dierkow entstand von 1983 bis 1987.

Weit ab von den Wohngebieten Dierkow-West und Dierkow-Ost wurde 1959 der S-Bahn-Haltepunkt als Überseehafen Süd eröffnet. Der Haltepunkt diente zu dieser Zeit vorrangig Bauarbeitern und den im Überseehafen Beschäftigten.
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1968 – mit dem Wachsen von Dierkow-West entlang der Hinrichsdorfer Straße – wurde der Haltepunkt zunächst in Haltepunkt Dierkow-West umbenannt.

Mit dem Baubeginn für die Plattenbausiedlung Dierkow (neu) 1983 und der Eröffnung einer weiteren S-Bahnstation mit dem Namen Dierkow Hp zur Anbindung des neuen Wohngebietes an den öffentlichen Nahverkehr wurde aus Dierkow-West der Haltepunkt Hinrichsdorfer Straße – um Verwechslungen zu vermeiden. Westlich des Haltepunktes entwickelte sich in der Folgezeit ein kleiner Gewerbestandort und die neu gebauten Wohnblöcke rückten näher an diesen S-Bahnhaltepunkt heran.

Bahntechnisch hatte der Haltepunkte einige Bedeutung – ein kleines Stellwerk für den südlichen Einfahrtsbereich zum Hafen und zum neuen Güterbahnhof befindet sich in der Nähe, ebenso das baulich realisierte Abzweiggleis zur Verbindung mit dem Straßenbahnnetz. Das Gebäude für den Fahrdienstleiter ist noch erhalten.
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Ebenso herrschte bis 1989 zusätzlicher Güterumschlag und Rangierverkehr über ein Industrieanschlußgleis.
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km 8,9 Toitenwinkel (ehemals „Überseehafen Mitte“)
1968 wurde dieser Haltepunkt eröffnet als Überseehafen Mitte. Er diente vorrangig den Berufspendlern zum Hafengelände, zum neuen Güterbahnhof und zu den Gewerbegebieten, die westlich der Bahngleise entstanden waren. Toitenwinkel war seit 1950 zwar nach Rostock eingemeindet worden, war aber immer noch sehr dörflich geprägt.

Anfang der 1980er Jahre entstanden die ersten Plattenbauten im Bereich Hafenbahnweg in unmittelbarer Nähe des S-Bahn-Haltepunktes- vermutlich wurde nach Fertigstellung der kleinen Siedlung der Name des S-Bahnhaltepunktes in Toitenwinkel geändert.

Die Bauarbeiten für die Plattenbausiedlung Toitenwinkel begannen erst Ende 1987; diese Siedlung war zu weit vom S-Bahn Haltepunkt entfernt, als das die S-Bahn hier eine größere Rolle für den öffentlichen Personennahverkehr gespielt haben könnte.

Eine Verlegung der S-Bahntrasse weiter in Richtung zu den Wohngebieten (Toitenwinkel und Dierkow) war zwar in Erwägung gezogen worden, wurde jedoch nicht realisiert.

Mit Stilllegung der S-Bahn-Strecke 2012 dürfte sich für die in Toitenwinkel wohnenden nicht viel geändert haben…


km 9,9 Überseehafen Bahnbetriebswerk
Das Bahnbetriebswerk ist noch in Betrieb - hier bestand nur ein nicht öffentlicher Bedarfshalt ausschließlich für Bahnpersonal.

km 11,8 Seehafen Nord (ehemals „Überseehafen Nord“)
Die Endhaltestelle der S-Bahnlinie 3 hieß bis 1967 Rostock- Überseehafen; 1967 wurde sie in Rostock – Überseehafen Nord umbenannt. 1969 entstand die Endhaltestelle der S-Bahn- Strecke im Überseehafen Nord in seiner heutigen Form.




Quelle:
Thiessenhusen, Kai-Uwe „Rostocker S-Bahn zum Fährhafen fährt nicht mehr. Eine Chronik der vertanen Chancen“; SIGNAL, Nr. 12/2012, S. 28 ff.
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Geschichte ist etwas, das vielleicht im Grunde erst geschrieben werden kann, wenn alles so lange vorbei ist, dass niemand mehr lebt, der ein aktuelles Interesse daran hat, wie es gewesen sein sollte.
(Carl Friedrich von Weizsäcker)

Ostseesprotte
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Re: Rostock - ehemalige S-Bahnlinie 3

Beitrag von Ostseesprotte » 29.05.2019 18:41

Hallo und Danke!
In dieser Ausführlichkeit einfach Klasse.
Gruß Ostseesprotte

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