Verlegung zerstörter Innenstädte

Militärische Objekte und Anlagen des 2. Weltkriegs (und 1933-1945)
g.aders
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Verlegung zerstörter Innenstädte

Beitrag von g.aders » 18.05.2016 20:32

Guten Tag,

in etlichen Städten, deren Zentren so gut wie vernichtet waren, läuft Jahrzehnte später die Geschichte um, dass man 1945 vorgehabt habe, das zerstörte Zentrum wüst liegen zu lassen und anderer Stelle ein neues zu bauen.
Ich wäre interessiert, zu erfahren,
1. von welcher Stadt so etwas berichtet wird,
2. welche aktenmäßige Belege es dafür gibt.
3. ob Gründe genannt werden, warum das nicht gemacht worden ist.

Von einer Stadt weiß ich, dass in einer Ratssitzung Anfang Juni '45 dieses Thema angesprochen worden ist, aber sofort vom Tisch war, als ein Vertreter der Tiefbauverwaltung darauf hinwies, dass unter den Trümmern ein weitgehend intaktes Netz von Versorgungsleitungen und eine intakte Kanalisation liege, und dass es mit den derzeit vorhandenen Mitteln viel einfacher sei, zerstörte Häuser wieder aufzubauen als ein neues unterirdisches Ver- und Entsorgungsnetz anzulegen.

Mit besten Grüßen
Euer
Gebhard Aders

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TimoL
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Beitrag von TimoL » 18.05.2016 22:15

Ich weiß nur von Würzburg, dass das da ernsthaft angedacht wurde.
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Baum
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Beitrag von Baum » 18.05.2016 23:45

Für Heilbronn hab ich das man schon mal gelesen.

Baum

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zulufox
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Re: Verlegung zerstörter Innenstädte

Beitrag von zulufox » 19.05.2016 08:35

g.aders hat geschrieben: Von einer Stadt weiß ich, dass in einer Ratssitzung Anfang Juni '45 dieses Thema angesprochen worden ist, aber sofort vom Tisch war, als ein Vertreter der Tiefbauverwaltung darauf hinwies, dass unter den Trümmern ein weitgehend intaktes Netz von Versorgungsleitungen und eine intakte Kanalisation liege, und dass es mit den derzeit vorhandenen Mitteln viel einfacher sei, zerstörte Häuser wieder aufzubauen als ein neues unterirdisches Ver- und Entsorgungsnetz anzulegen.
Hallo Herr Aders,

die Aussage des Vertreters der Tiefbauverwaltung zeigt m.E. deutlich, dass schon damals unter dem enormen Zeitdruck Entscheidungen ohne tatsächliche Kenntnis des wirklichen Zustandes der Versorgungsleitungen und der Kanalisation gemacht wurden.

Ich habe Ende der 60er-Jahre ein Praktikum beim damals städtischen Energieversorgungsunternehmen der Stadt Darmstadt gemacht. In dessen Rahmen war ich auch öfter bei der Behebung von Störungen des Niederspannungsnetzes der Innenstadt dabei. Die Störungen traten meist in den vor dem Zweiten Weltkrieg verlegten Erdkabeln auf. Sehr oft war zu erkennen, dass die damaligen Kabel (Kupferadern mit einer Isolierung aus getränktem Papier gegeneinander und gegen die Ummantlung, Ummantlungen nach außen mit durch Blei- bzw. Aluminium-Bänder in Pech- oder Bitumenfeuchtigkeitsschutz) durch die bei den Bränden entstandene enorme Wärme geschädigt worden waren. Der Feuchtigkeitsschutz war so ausgetrocknet, ebenso die Isolierung der Einzeladern, dass es hier insbesondere bei anhaltender großer Bodenfeuchtigkeit zu Kurzschlüssen kam. Diese konnten dann für eine schnelle Reparatur einerseits nur schwer eingemessen werden, andererseits entstand so auch noch ein immenses Flickwerk. Erschwerend kam außerdem noch hinzu, dass in vielen Fällen die alten Leitungspläne durch die Brände vernichtet worden waren.
Auch die mechanischen Schädigungen der Wasser- und Gasrohre und der Abwasserleitungen wurde ja nicht eingehend untersucht, es ging meist nach dem Motto: "Funktioniert ja noch, also in Ordnung".

Was man beim Wiederaufbau auch außer Acht gelassen hat, war die Entwicklung insbesondere der Städte. Einzig wohl Hannover hat den Versuch unternommen, die schmalen "mittelalterlichen" Straßenzüge im Rahmen des Wiederaufbaus zu verbreitern.

Gruß ins Münsterland
Zf :holy:
Demosthenes (384 - 322 v. Chr. Athen)
"Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr."

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Beitrag von niemandsland » 19.05.2016 11:33

Hallo Herr Aders,

in Hannover hat es diese Überlegung im Jahr 1943 - nach den schweren Luftangriffen im Herbst - gegeben. Hier war es der "Rat der Stadt Hannover". In den entsprechenden Protokollen der Ratssitzung von September/Oktober 1943 geht es um diesen Punkt. Entsprechende Fund-Stellen könnte ich bei Bedarf raussuchen.

Gruß aus Hannover
Guido Janthor

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Talpa
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Beitrag von Talpa » 19.05.2016 22:02

Hampe "Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg" und Brunswiek " Einsatzerfahrungen des Brandschutzdienstes im 2. Weltkrieg " schneiden das Thema ja auch an. Dann unter dem Thema vorbeugender Luft- und Brandschutz.
Zumindest im Brunswiek sind dann ja auch Beispiele von neuen Stadtteilen die in dieser Hinsicht als besonders gelungen gelten.
Neue Stadtteile sind sicherlich mehrfach auf der grünen Wiese entstanden, um den Bedarf an Wohnungen zu decken.
Wenn es das umgekehrte Beispiel geben würde, dass Stadtteile aufgegeben wurde wäre das mit Sicherheit irgendwo bekannt.
Ich denke das diese nicht aufgegeben wurde hängt in der Tat mit der Infrastruktur zusammen. Wenn ein Mangel an allem herrscht ist ein schwaches und marodes Netz besser als keines.
Taktik ohne Technik ist hilflos,
Technik ohne Taktik ist sinnlos.

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Beitrag von Pogg 3000 » 19.05.2016 23:19

Hallo Zusammen,

in dem Buch "Architektur und Städtebau der 30er/40er Jahre", Band 48 der Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz ISBN 3-922153-07-0 (Ergebnisse der Fachtagung in München, 26.-28. November 1993) möchte ich Euch gerne zu Hamburg und Hannover zitiren:

Zu Hamburg: " Für die Städte im "Altreich" hingegen wurde 1940/41 die "Ortsgruppe als Siedlungszelle" in Überlagerung räumlicher, sozialer und politischer Planung konkretisiert und in Musterheften verbreitet,- ein veritabel modifizierbarer Baustein im Gefüge der weiträumigen Stadtlandschaft- nicht nur für Hamburg empfohlen.
Doch schon ein Jahr später führten die verstärkten Luftangriffe der Alliierten auch die Planer zur Einsicht, daß nun noch konsequenter "Lehren aus dem Luftkrieg" zu ziehen waren: Der Angriff auf Hamburg führte zu einem Wechsel in den Prämissen der Planung, in der nun von den repräsentativen Großbauten abgerückt und eine durchgreifende Freilegung der naturräumlichen Gliederung der Stadtlandschaft empfohlen wurde.

Das ist zwar alles sehr Allgemein, aber vielleicht könnt "Ihr im Norden" aber trotzdem "was mit anfangen".

Zu Hannover wird´s "ein bisschen" genauer: " Wie in Hamburg hatte man auch in Hannover die "Lehren aus dem Luftkrieg" gezogen, indem 1944 statt der großen Achsen in der verdichteten Stadtstruktur, wie in den Neugestaltungsplänen von 1938 vorgesehen, nun das landschaftliche Gefüge des Leinetals das Stadtbild prägen sollte: Durch die Nichtwiederbebauung weiter Teile der Stadt sollte hier vom Maschsee über die Leineniederung bis zu den Herrenhäuser Gärten die künftige Stadtlandschaft Hannover ganz den naturräumlichen Bedingungen folgen.
Schon 1941 hatte der Stadtbaurat Karl Elkart angesichts der ersten Angriffe auf die Stadt gefordert, die künftige Planung bewußt auf die topographischen Besonderheiten der Landschaft zu beziehen."

Schöne Grüße "in den Norden", Thomas

g.aders
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Beitrag von g.aders » 20.05.2016 08:53

Dankeschön für die Antworten!

In den meisten Städten, die bereits 1941 größere Schäden erlitten, entstanden "Wiederaufbaugesellschaften", die großzügige Innenstadtplanungen auf dem Papier vollzogen und neue Randsiedlungen, sogar aufgelockerte Randzentren. (In einem seiner Tagebücher begrüßte Goebbels jede Bombe, die in Köln ein Haus der viel zu engen Hohe Straße wegriss)
In Köln ist ein Projekt der Wiederaufbaugesellschaft ausgeführt worden: die Nord-Süd-Fahrt.

Der angebliche Plan, Würzburg an anderer Stelle wieder aufzubauen, geht auf eine Veröffentlichung von 1963 ist - ist aber, wie so oft, eine quellenmäßig nicht zu belegende Story.

Beste Grüße
G. Aders

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EricZ
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Beitrag von EricZ » 20.05.2016 10:05

Was man beim Wiederaufbau auch außer Acht gelassen hat, war die Entwicklung insbesondere der Städte. Einzig wohl Hannover hat den Versuch unternommen, die schmalen "mittelalterlichen" Straßenzüge im Rahmen des Wiederaufbaus zu verbreitern.
Hallo Jürgen,

Hannover ist nicht die einzige Großstadt gewesen. Auch Duisburg hat in den Jahren nach dem Krieg die mittelalterlichen Strukturen im Altstadtbereich "aufgebrochen" und den historischen Charakter fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Wenn man Spuren lesen kann, findet man noch einzelne Relikte, wie z.B. Reste der Stadtmauer und manche kleinere, historische Straßenführung, an welcher aber regelmäßig Nachkriegsgebäude errichtet worden sind. Das einzige erhalten gebliebene mittelalterliche Wohnhaus der Altstadt ist das Dreigiebelhaus: https://de.wikipedia.org/wiki/Dreigiebelhaus

Aus heutiger Sicht aus diversen Gründen ein sehr bedauerlicher Vorgang der Duisburger Stadtplanung, der übrigens auch zum Zeitpunkt der Vorbereitungen und Umsetzung nicht deshalb gerechtfertigt gewesen ist, weil in dem betreffenden Bereich die Zerstörung der historischen Gebäude zu gravierend für einen Wiederaufbau gewesen ist. Wenn man gewollt hätte, hätte man das hinbekommen können - siehe nur als ein Beispiel von sicherlich vielen möglichen: Breslau.

In den Nachkriegsjahren wollten die Duisburger Stadtvordersten mit ihren beratungsresitenten Dickköpfen aber durch die Wand, weg vom "engen Altstadtmief" und hin zu großkotzigen, zukunftsgerichteten Planungen für die Montanstadt, die in weiten Teilen gegen die wohlgemeinten Ratschläge externer Fachleute umgesetzt wurden.



@Gebhard

Hallo Gebhard,

Spannendes Thema! Von einer Planung, die Stadt nebenan "auffem Acker" neu aufzubauen, weiß ich die Stadt Duisburg betreffend nichts. Freie Flächen für ein solches Vorhaben hätte es zudem nicht wirklich gegeben, und wenn, dann zumindest nicht im Eigentum der Stadt.


Viele Grüße, Eric
And I'm hovering like a fly, waiting for the windshield on the freeway...

SuR
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Beitrag von SuR » 20.05.2016 12:34

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LG,
SuR

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