U-Verlagerung "Gazelle" - Kalischacht Walbeck
Die Geschichte der Walbecker Kalischächte begann am 17.März 1904 mit der Gründung der Gewerkschaft Walbeck der Burbach AG. Die Gewerkschaft verfügte über fast 77.000 m² Grundbesitz und dreizehn preußische Maximalfelder, die als Abbaurechte für Kali- und Steinsalze verliehen worden waren. Diese Abgaben- und Förderzinsfreien Abbaufelder in den Gemarkungen Bischofswald, Döhren, Groß-Bartensleben, Walbeck und wurden im Juni 1908 zu einem einheitlichen Bergwerk zusammengefasst. In mehreren Tiefbohrungen wurden schließlich vier Kalisalzlager unterschiedlicher Mächtigkeit aufgeschlossen.
Im Jahre 1903 wurde der Schacht von 54m auf 262m und 1904 bis auf zunächst als endgültig angesehene 420m abgeteuft. Nach der endgültigen Fertigstellung des Schachtes erfolgte dann am 24. Juni 1905 die feierliche Einweihung und Taufe des Schachtes nach dem Vorsitzenden auf den Namen "Gerhard", Bis 84m erfolgte der Ausbau des Schachtes mit Tübbingen, darunter in wasserdichter Mauerung. Die beiden Hauptsohlen wurden bei 360m und 420m eingerichtet. Abbau und Förderung begannen schließlich im Frühjahr 1906. Übertage wurde mit zwei Dampfmaschinen von 300 resp. 500PS Strom für die Steinsalzmühle und die Zwillingsfördermaschine erzeugt, die etwa 300kg Salz pro Stunde fördern konnte. Das gewonnene Salz wurde per Eisenbahn über einen eigenen Bahnanschluss abtransportiert. Zwischen 1908 und 1913 wurde der zweite, näher an Walbeck gelegene Schacht "Buchberg" bis auf eine Teufe von 520m niedergebracht. Bereits 1925 legte der Burbach-Konzern beide Schachtanlagen still. Für einige Jahre lagen die Schächte und Anlagen brach, bis die deutsche Wehrmacht Mitte der dreissiger Jahre im Zuge der Aufrüstung in der Anlage die Einrichtung einer Munitionsanstalt der Luftwaffe plante.

Mit den in den letzten Kriegsjahren immer stärker werdenden Bombenangriffen auf Industrieanlagen wuchs auch der Bedarf an möglichst sicheren Orten, an welche die Produktion von Rüstungsgütern verlagert werden konnte. Im Jahr 1944 liefen bei den Bergämtern offizielle Anfragen nach weiteren Untertage-Verlagerungsmöglichkeiten kriegswichtiger Industriebetriebe ein und im März des Jahres Besichtigten und untersuchten Vertreter des Wehrkreiskommandos XIa die Schächte hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für diese Aufgabe. Die Luftwaffe, die für die Schachtanlage weitergehende Pläne hinsichtlich eines Munitionsdepots hatte, widersetzte sich zunächst. Vom Reichsminister für die Rüstung und Kriegsproduktion war vorgesehen, mehreren Produktionsbetrieben eine untertägige Gesamtfläche von 73.500m² auf den beiden Sohlen der Anlage zur Verfügung zu stellen. Rund 3.500m² davon sollten an die Braunschweiger Firma Büssing NAG und 25.000m² an Henschel oder einen der direkten Zulieferer de gehen. Weitere 45.000m² behielt sich der Rüstungsstab zur späteren Vergabe vor. Büssing NAG, ging im März 1944 davon aus, in Walbeck im Schacht Gerhard auf einer Fläche von 8.000m² der 360m-Sohle mit 800 Personen Motorenteile fertigen zu können. Schacht Buchberg war für die Industrie aufgrund des fehlenden Gleisanschlusses deutlich weniger interessant, dennoch hatte zumindest die Berliner Firma Alkett Anfang 1944 noch ein gewisses Interesse angemeldet.
Die Vorbereitungen zur Nutzbarmachung der nun unter dem Decknamen "Gazelle" geführten Anlage (Gerhard = Gazelle I, Buchberg = Gazelle II) begannen im Spätsommer 1944. Mitte August 1944 forderte die Bauleitung unter Leitung der Einsatzgruppe Kyffhäuser der Organisation Todt KZ-Häftlinge aus Buchenwald als Arbeitskräfte für die westfälische Aufschließungsfirma Dallmann an.
Am 22./23. August 1944 verließ der erste Transport mit rund 500 Gefangenen das Konzentrationslager Buchenwald in Richtung Weferlingen. Die Häftlinge wurden von der SS zunächst in Zelten am Schacht Buchberg, später dann in Holzbaracken untergebracht. Etwa einhundert Häftlinge, wahrscheinlich handelte es sich um sog. "Politische", waren während der Bauphase unter sicherlich schlimmsten Bedingungen permanent untertage einquartiert, ohne je an die Erdoberfläche kommen zu können. Ihre Arbeit bestand in der Begradigung von Strecken, Ausbruch- und Ausschachtungsarbeiten und der Einbringung von Betonböden und -Sockeln für die Werkzeugmaschinen. Zahlreiche, teilweise wöchentliche Kranken-Rücktransporte nach Buchenwald belegen, wie kräftezehrend und schwer die Arbeit gewesen sein muß. Das KZ schickte jeweils sehr zeitnah zu den Rücktransporten neue Transporte zum Außenkommando Gazelle, so daß die Häftlingszahl immer nahezu gleichbleibend war, ab Januar 1945 betrug sie beinahe konstant zwischen 440 und 460 Mann. Laut den Unterlagen der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse leisteten die Gefangenen vor Ort insgesamt 10.788 Tagwerke mit 124.062 Mannstunden bei einer Bezahlung von vier Reichsmark pro Manntag. Ob diese Entlohnung jemals bei den Betroffenen ankam, darf sicher bezweifelt werden - wahrscheinlich behielt die SS sie einfach ein.

Schacht Buchberg verfügte im Oktober 1944 über eine Dampf-Förderanlage, während der Schacht Gerhard bereits mit einer elektrischen ausgestattet war. Um die letztgenannte besser vor feindlicher Einwirkung zu schützen, plante man noch im selben Monat die Verbunkerung der Förderanlage. Aufgrund von Rohstoff- und Materialmangel gingen die Ausbauarbeiten langsamer als geplant voran. Am 9. Januar 1945 berichtete das Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld, daß sich Ausbau und Fertigstellung des zweiten Raums aufgrund Mangel an Betonkies verzögert und auch im Dezember 1944 keine nennenswerten Verlagerungen von Maschinen in die Anlage stattgefunden hätten.
Die ersten Produktionsanlagen unter Tage dürften Anfang 1945 in Betrieb gegangen sein. Ab April 1944 wurden von den Firmen Henschel und NiMo/NieMo (Niedersächsische Motorenwerke - 1935 von Büssing und dem Deutschen Reich gegründet) vor allem Motoren und Motorenteile für Flugzeuge, Schnell- und U-Boote, darunter z.B. auch Lizenzbauten der bekannten DB 605-Triebwerke, eingelagert bzw. montiert. Die Gesamtlagerfläche wird in britischen Quellen mit rund 76.000 qm angegeben, davon nur etwa 2.400 qm oberirdisch. Das Bergamt Braunschweig gab dagegen Ende Januar 1945 in einem Schreiben an das Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld die folgenden Zahlen an:
Bisher zur Verfügung gestellter Raum in m² | 36.000 |
Davon a) für Betriebsverlagerungen | 36.000 |
Davon b) für Einlagerungen | 0 |
Davon aa) bereits in Betrieb genommen | 4.000 |
bb) in Herrichtung begriffen | 10.000 |
cc) noch nicht begonnene Herrichtung | 22.000 |
Bei der Herrichtung ausgeschossenes Gestein m³ | 25.000 |
Zahl der zur Verfügung gestellten Bergleite | 255 |
Anders als viele andere KZ-Außenkommandos wurde das Lager Walbeck im April 1945 nicht evakuiert, von hier aus fand also keiner der berüchtigten Todesmärsche statt. Am 12. April 1945 erreichten alliierte Truppen Walbeck und befreiten das Lager. Die Häftlinge wurden nach Kriegsende übergangsweise in der Kaserne des nahegelegenen Fliegerhorstes Grasleben untergebracht.
Am 26. Oktober 1946 sprengten sowjetische Truppen die beiden Schächte, in Schacht Gerhard bildete sich hierbei ein nach unten abdichtender Trichter. Trotzdem fluteten die Grubenräume durch eindringendes Wasser von Schacht Buchberg. Im benachbarten Grasleben befürchtete man, daß die Wassermassen auch das Steinsalzbergwerk Braunschweig-Lüneburg erreichen könnten, dies bewahrheitete sich aber glücklicherweise nicht. In den Folgejahren 1947/1948 wurden auch die übertägigen Anlagen und die Baracken des KZ-Aussenlagers abgetragen und verwertet. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zur ehemaligen Zonengrenze wurde das Gelände sicherlich auch später noch etwas "bereinigt".
Heute erinnert so auch nur noch wenig an dieses Kapitel der Geschichte Walbecks. Neben einigen Zaun- und Fundamentresten ist nur noch das Verschlussbauwerk von Schacht Buchberg ("Gazelle I") und ein Gedenkstein für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der Gewerkschaft Buchberg erhalten. Er steht an der Stelle, die früher ungefähr die Mitte des Betriebshofes der Schachtanlage markierte. Die Spuren von Schacht Gerhard beschränken sich auf einige Fundamentreste und den Einsturztrichter des Schachtes. Auf dem Walbecker Friedhof erinnert ein Gedenkstein an die Opfer des Außenlagers.
Quellen (Auszug):
- JIOA Final Report Nr.2
- Techn. Denkmäler in der BRD, Bd.3, Die Kali- und Steinsalz-Industrie, Rainer Slotta
- Die Organisation Todt, Franz w. Seidler, 1987
- Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Eugen Kogon
- Das nationalsozialistische Lagersystem, M.Weimann
- Decknamenverzeichnis deutscher unterirdischer Bauten des zweiten Weltkriegs, Hans Walther Wichert
- Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld, Bestände ACC 9/3731, 9/3732 und 9/3734
- Luftfahrtforschung, Luftfahrtindustrie und Luftfahrtwirtschaft in Braunschweig, DGLR
- NUERNBERG MILITARY TRIBUNAL, Volume VI · Page 759
- Zahlreiche Hinweise von J.Tiedemann
- Archiv Frank Baranowski
- versch. Zeitungsartikel
- eigene Recherchen
Tags: Rüstung, Bergwerk, Stollenanlage