Ausweichsitz der Landesregierung Baden-Württemberg

Bereits Mitte der fünfziger Jahre befasste sich eine Expertengruppe der NATO mit den baulichen Anforderungen, die geschützte militärische und zivile Führungsstellen in einem Krieg mit nuklearen Waffen erfüllen müssten. Die Ergebnisse gab der NATO-Rat als Empfehlung an seine Mitgliedsstaaten weiter, so nach Beitritt der Bundesrepublik Deutschland auch an das Verteidigungs- und das Innenministerium. Neben militärischen entstanden in den Folgejahren auch zahlreiche Schutzbauten als Ausweichsitze verschiedener Organe der zivilen Administration - bekanntestes Beispiel ist sicher die „Dienststelle Marienthal“. Aber auch einige Bundesländer sorgten für den Kriegsfall baulich vor, darunter auch das Land Baden-Württemberg.

Unter der Tarnbezeichnung „ZSVA“ - Zivilschutzvermittlungsanlage - entstand Anfang der siebziger Jahre mitten in ländlicher Idylle etwas abseits des Örtchens Oberreichenbach der „Regierungsbunker“ des Landes. Das größtenteils von Wald bewachsene, mehr als zehn Hektar große Grundstück bot nicht nur guten Sichtschutz, sondern mit seinem „Jägerhaus“ hinter einem passenden Jägerzaun auch eine gute Tarnung nach außen hin. Der eigentliche unterirdische Bunker, ein fünfstöckiger Würfel mit rund dreiunddreißig Meter Kantenlänge, entstand auf einem zusätzlich gesicherten, etwa 5ha großen inneren Bereich.

Das JägerhausEin etwas hölzerner AnwohnerZugangsbauwerkAußenbauwerk

Drei Meter starke Stahlbetonwände, Lüftungs-, Kühl- und Filteranlagen, ein eigener Brunnen und zwei Dieselgeneratoren mit einer Leistung von je 400kVA sollten zweihundertfünfzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Ministerien vierzehn Tage lang das Überleben, Regieren und Verwalten des Landes Baden-Württemberg ermöglichen. Rund vierhundertfünfzig Fernmeldeleitungen liefen tief unter der Erde, von Stahlrohren zusätzlich geschützt, in das Bauwerk und sollten für Verbindung mit der militärischen und zivilen Außenwelt sorgen. Zwei riesige, wie Teleskopantennen bis zu einer Höhe von zwanzig Meter ausfahrbare Antennenträger, scherzhaft als „Papstfinger“ bezeichnet, hätten Funkverbindungen direkt aus dem Bunker heraus erlaubt. Da dies natürlich dem Feind einen Hinweis auf die Anlage gegeben hätte, verfügte man über eine zusätzliche, einige Kilometer entfernt errichtete Sendestelle bei Deckenpfronn.

 

Der Papstfinger (ausfahrbarer Antennenmast) von untenSteuerpult des Papstfingers (ausfahrbarer Antennenmast)

1971 nahm die Anlage ihren Betrieb auf - natürlich nur im Rahmen regelmäßig stattfindender Stabsrahmenübungen. Im Normalfall nahmen zivile Dienststellen nur für einige Tage an den großen NATO-Excercises teil. An „WINTEX 75“ beteiligte sich das Land Baden-Württemberg allerdings bis zum Übungsende, um den Ausweichsitz und seine gedachte Funktion auf Herz und Nieren testen zu können. Tatsächliche Minister gab es bei den Testläufen aber nicht, Personal der beteiligten Ministerien spielte dann einfach einmal „Minister Üb“.

Überbleibsel: Lagetafel aus dem großen Lageraum

Im Vergleich zu anderen Schutzbauwerken derselben Entstehungszeit verfügte der Bunker in Oberreichenbach über einige bemerkenswerte Bau- und Ausstattungsmerkmale. Eine doppelte Decke mit dazwischen liegendem Hohlraum sollte, dem von DDR-Bunkeranlagen bekannten Prinzip der „Zerschellerplatte“ nicht unähnlich, zusätzlichen Schutz bei direkten Treffern konventioneller Waffen bieten. Auch ein kompletter EMP-Schutz wurde realisiert, erkennbar ist dies bis heute an speziellen, umlaufenden Erdungseinrichtungen an den Druckabschlüssen des Landesbunkers. Nicht nur an das reine Überleben, auch an einen gewissen Komfort, vor allem wohl für die weibliche Bunkerbesatzung, hatte man gedacht. So findet sich nicht nur eine Waschküche mit Wasch- und Trockenmaschine und ein Hinweisschild auf einen in der Geschäftsstelle verfügbaren Fön im Damen-Waschraum - hier wurde sogar ein Bidet für die Intim-Hygiene installiert.

 

Drucktür mit EMP-SchutzDrucktür mit EMP-Schutz

Selbstverständlich war die Bunkeranlage als streng geheim eingestuft und das sollte sie noch über das Ende des Kalten Krieges hinaus bleiben. Erst am 29. September 1992 beschloß der Ministerrat, den geschützten Ausweichsitz der Landesregierung aufzugeben. Die geänderte Bedrohungslage und natürlich die nicht unerheblichen Betriebs- und Erhaltungskosten ließen den Bunker als überflüssiges Relikt einer überkommenen Zeit erscheinen und Nachnutzung, Veräußerung und möglicherweise Abbruch wurden diskutiert. Da das Bauwerk tief in das Grundwasser hinein reicht, machte man sich allerdings Sorgen darüber, nach einem Verkauf keinerlei Kontrolle mehr über die tatsächliche Nutzung zu haben. Das Finanzministerium vertrat die Auffassung, dass sich das Land dieser selbst verursachten Gefahr und Verantwortung nicht durch einen Verkauf entziehen dürfe. Ein Rückbau des Bunkers in Oberreichenbach hätte mehrere Millionen Euro gekostet, so dass diese Lösung dem Ministerium im Vergleich zu einer kontrollierten Drittnutzung unwirtschaftlich erschien.

Ungefähr zur gleichen Zeit diskutierte der Landtag – möglicherweise nicht ganz zufällig – auch das Thema „Ausfallvorsorge in den DV-Zentren der Landesverwaltung“. Der ehemalige Ausweichsitz bot sich als Lösung geradezu an, so dass die Landesregierung das Finanzministerium am 9. Mai 1994 beauftragte, einen Mietvertrag mit einem privaten Unternehmen abzuschließen, welches dort ein in privatwirtschaftlicher Regie aufgebautes und betriebenes Ausweich-Rechenzentrum einrichtet und seine Leistungen der Landesverwaltung ebenso anbietet wie anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen und Unternehmen.

Den Betrieb dieses Ausweich- und Vorsorge-Rechenzentrums übernahm nur wenig später die Firma COMPAREX, eine Tochterfirma der Unternehmen Siemens und BASF. Zahlreiche Umbauten waren notwendig, um das Bauwerk für seine neue Aufgabe vorzubereiten. Neben der Verlegung moderner Glasfaser-Datenleitungen und der Installation umfangreicher DV-Technik mussten kleinere Räume zu größeren zusammengefasst und ein zusätzlicher, heutigen feuerpolizeilichen Auflagen entsprechender Notausgang geschaffen werden. Im Juni des Jahres 1995 waren die zwei Rechenzentren, mehrere Schulungs- und Besprechungsräume, Datentresore und Sicherheitseinrichtungen eingerichtet, so dass der Betrieb am 16.6.1995 aufgenommen werden konnte.

Moderne Servertechnik im Jahr 2012

Inzwischen betreibt das aus der COMPAREX hervorgegangene Unternehmen COMback diesen riesigen Datenspeicher. Zahlreiche Unternehmen aus den verschiedensten Branchen legen hier ihre Sicherheitskopien ab, um ihren Betrieb auch im „worst case“ kurzfristig wieder aufnehmen bzw. weiterführen zu können. Auch das Land Baden-Württemberg sichert weiterhin Daten im Bunker, täglich wandern so etliche Terabyte auf die Festplatten und Bänder. Ein Grossteil kommt dabei über die aus Redundanzgründen vierfach angebundenen Datenleitungen, einige besonders schutzbedürftige Daten werden in speziellen Behältern per Panzerwagen angeliefert und physisch eingelagert. Fünfundzwanzig Mitarbeiter kümmern sich um den Betrieb der Technik, die hohen Stromverbrauch verursacht. Alleine das lässt erahnen, dass diese Dienstleistung nicht billig sein kann. Für Verwaltungen und Unternehmen ab einer gewissen Größe kann ein Ausfall der Datenverarbeitung über mehrere Tage oder ein Komplettverlust ihrer Daten schier unabschätzbare Kosten oder sogar das „Aus“ bedeuten – eine nahezu vollkommen sichere Backup-Lösung ist da im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Zwischen sechs und neun Millionen Euro per anno setzte COMback mit seiner Dienstleistung in den letzten Jahren um.

 

Quellen:
- NATO M-C (55) 48 Final und andere Akten des Infrastructure Sub-Comittee AC-156
- Landesarchiv Niedersachsen - Nds.100 Acc.2003/203
- Das Staatsgeheimnis von Oberreichenbach, Mark Doerbeck
- Landtag Baden-Württemberg, Drucksachen 11/3798, 13/1335, 13/4414
- Bundesanzeiger
- Jörg Diester, ausweichsitz.de
- Speicherguide vom 22.08.2003
- Government Computing 08/2003

Wir danken der COMback GmbH für die freundliche Unterstützung.

Tags: Ausweichsitz, Landesbunker, Regierungsbunker