Bahnhofkühlhaus Basel - Wie man lagert so liegt man

Mitten in der Weltwirtschaftskrise im Mai 1933 wird auf dem Areal des Güterbahnhofs in Basel ein Kühlhaus eröffnet. An der Grenze zu Frankreich und Deutschland gelegen, steht der Flachdachbau mit Eisfabrik-Anbau wie ein modernistischer Kubus inmitten der Brache. Seit 2008 ist er Geschichte ...

 

Eine internationale Aktiengesellschaft bringt das Kapital für die hohen Kosten des mehrgeschossigen Stahlskelettbaus auf. Der mit einer Ammoniak-Kältemaschine, Ventilatoren, Kondensatoren, einer Frischluftansaugevorrichtung und Krananlagen ausgestatte und mit Korkstein isolierte Bau, »einer der modernsten Europas«, sollte 16.000 Kubikmeter Lagerraum bis minus 15 Grad Celsius schaffen – für Fische und Kaviar aus dem Weltmeeren, Bananen aus Zentralamerika, Butter aus Dänemark, Eier aus dem Balkan, Frühgemüse aus Italien oder Geflügel und Wild aus Ungarn. Etymologisch betrachtet verweist das Lager auf jenen Ort, wo sich Menschen hinlegen und ausruhen. Das Lager ist in seiner ursprünglichsten und allgemeinsten Bedeutung der Ruheort. In der Kaufmannsprache bezeichnet das Lager jenen Raum, in dem Waren gestapelt werden und im übertragenen Sinn auch die Waren, die der Händler an Lager hat. Das Lager avanciert in der Moderne zunehmend zum Symbol für Kosten, zur Chiffre des Stillstands und zum Ausgangsort all jener ingenieurs- und betriebswissenschaftlichen Bemühungen, die auf die Beschleunigung, Verflüssigung und schließlich Eliminierung der Lagerbewirtschaftung zielen.

Lagerhäuser entstehen da, wo Verkehrswege sich kreuzen und Verkehrsmittel sich treffen. Entrepôts, Güterschuppen, Silos, Petroleumtanks, Warehouses und Kühlhäuser sind Teil einer Verdichtung und Materialisierung von Transportinfrastrukturen. Sie befanden sich seit jeher an Gewässern, seit dem 19. Jahrhundert auch an den Eisenbahnknotenpunkten und im 20. Jahrhundert schließlich an Autobahnkreuzen und Flughäfen.

Lagerhäuser wurden im 19. Jahrhundert zunächst in Anlehnung an ältere Bauweisen gestaltet – als hätten die Fachwerkverzierungen und die romanischen und gotischen Fassaden den inwendig verwendeten Eisen- und Stahlbeton, die eingelagerten Massenwaren und die damit assoziierten Prinzipien des kapitalistischen spekulativen Geistes verbergen müssen. Im Inneren der Hohlräume, durch massive und feuergeschützte Mauern und unterzugslose Decken getragen, verwies bereits ein Arsenal von mechanisierten Aufzügen, Elevatoren, Förderanlagen, Kränen, Feuermeldern und Sprinklern auf jene Entwicklung, die im 20. Jahrhundert den Ruhe- und Transitraum für Waren in eine voll automatisierte Maschine verwandeln wird.

Lagerhäuser sind transitorische Räume: Sie überbrücken Ernte und Verbrauch und bilden eine Zwischenwelt zwischen Produktion und Distribution. Lager sind Kurz- und Langzeitpuffer, sie gleichen Konjunkturschwankungen aus und werden als Streikreserven, Kriegsvorsorge und Spekulationsmasse angelegt. Das Bahnhofkühlhaus in Basel ist in den dreißiger Jahren wegen Einfuhrbeschränkungen, internationalen Zahlungsschwierigkeiten und Devisenrestriktionen zunächst ein Verlustgeschäft für die Betreiber. Die erhofften Geflügel aus Osteuropa und die Butter aus dem Norden bleiben aus, stattdessen wird bloß viel kalte Luft gelagert.

Ausgerechnet die Kriegswirtschaft mit staatlich gelenkter Vorratshaltung beschert der Aktiengesellschaft dann mit Fleisch gefüllte Lager. Als Zollfreilager offeriert die Bahnhofkühlhaus AG die Einlagerung von Transitgütern als Enklave innerhalb der nationalstaatlich gere- gelten Zollordnung.

Seit dem Merkantilismus wurden bestimmte Lagerhäuser mit Rechtsprivilegien versehen. Daraus entwickelte sich mit dem Warrantgeschäft ein neuer Geschäftszweig, der sich mit dem unverzollten Ein- und Auslagern, dem Teilen, Sortieren, Mischen, Verpacken, Etikettieren, dem Verzollen, sowie dem Belehnen, Verpfänden und Verkaufen von Waren beschäftigt. Kernstück dieses Handels ist der Lagerschein, der zum symbolischen Vertreter der Ware mutierte und damit im 19. Jahrhundert einen Börsenhandel mit Lagerwaren in Schwung brachte.

Die Ingenieurswissenschaften machten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Entwicklung der Kältetechnik Kühlhäuser möglich, Ende der zwanziger Jahre entdecken sie die Rationalisierung und Optimierung des Lagerns. »Material Handling« verspricht Techniken und Ver- fahren zur Ersetzung von Handarbeit durch technisches Handling. Materialflussingenieure arbeiten an der Ersetzung der Umschlags- und Lagerarbeit durch
Maschinen, weil diese Transitzone zwischen Produktion und Distribution jenes gefährliche Nadelöhr der modernen Massenproduktion darstellt, wo Waren beschädigt und gestohlen werden, verloren gehen oder wo die Bewegung der Waren durch Streiks unterbrochen werden kann.

Arbeit im Bahnhofskühlhaus Basel 

So wie die Volkswirte seit Adam Smith Wohlstand mit der Kapitalzirkulation verbinden, verknüpfen die Betriebsökonomen Rationalisierung mit einer Verflüssigung des Materialdurchlaufes und einer Beschleunigung der Lagerumschlagsgeschwindigkeit. Das Lager wird in den goldenen Boomjahren der Nachkriegszeit, die durch eine Multiplikation von Konsumgütern und einen Mangel an Arbeitskräften gekennzeichnet sind, zur Problemzone erklärt.

Die ersten mathematischen Modelle einer optimierten Lagerhaltung stammen von dem amerikanischen Ökonomen Kenneth Arrow aus dem Jahr 1950, zehn Jahre später beflügelt die Planung des »selbsttätigen«, »vollautomatisierten« Lagers die Ingenieure. Doch ohne ein hölzernes Transportbrett, das während des Zweiten Weltkriegs vom amerikanischen Militär standardisiert und von den Truppen mit dem Nachschub an die Kriegsschauplätze Europas und Asiens transportiert wird, wären die umfassenden Rationalisierungs- prozesse des Lagers undenkbar. Die Palette stapelt das Lager der Nachkriegszeit grundlegend um. Paletten bilden den Standard für eine Vereinheitlichung der Verpackungen, sie sind Lade- und Lagereinheiten und Referenzgröße für die Optimierung des Lagerraums. Auf der Basis von Paletten und Hubstaplern und mit Hilfe von Materialflussanalysen werden materialflussgerechte Lager gebaut. Auch das Bahnhofkühlhaus in Basel ersetzt 1951 die alten Handwagen durch Palet- ten und mechanisierte För- dermittel.

Die Paletten sind auch eine Vorbedingung für Hochregallager und eine Voraussetzung für die Automation von Lagern seit den sechziger Jahren: Je einheitlicher die Waren, desto höher die Lager und desto umfassender die Automationspotentiale. Zu Beginn der siebziger Jahre plant die Bahnhofkühlhaus AG ein neues automatisiertes Kühlhaus nicht mehr am alten Standort beim Eisenbahnknotenpunkt in Basel, sondern in Möhlin im Schweizerischen Mittelland, wo die Bodenpreise günstiger sind als in der Stadt. Im Zentrum der Schweiz, direkt an den Nationalstrassen N2 und N3 gelegen und mit Anschlussgleisen versehen, bietet das nun eingeschossig errichtete Hochregallager jederzeit Zugriff auf jede Palette. Waren zu Beginn der fünfziger Jahre am alten Standort Basel noch 40 Prozent der Waren palettisierbar, sind es 1981, zum Zeitpunkt der Eröffnung des neuen Lagerbaus, bereits 90 Prozent.

Parallel zur Neuorganisation des Materialflusses wird an der Neugestaltung des Datenstroms gearbeitet. Die Ablösung von Lagerbüchern und Kartotheken durch Lochkarten und Magnetbänder ermöglicht eine »chaotische Ordnung« des Warenlagers, die nicht mehr auf dem papiergestützten Gedächtnis des Lageristen beruht. Nach der Einführung der Computers können Waren dort gelagert werden, wo gerade Platz frei ist, ähnlich wie es Computersysteme auf Festplatten tun.»First in, First out« lautet das EDV gesteuerte Lagerungscredo des neuen Kühlwarenverteilzentrums in Möhlin.

Dieses Prinzip ist umfassend und grundlegend und nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Auch Bibliotheken folgen diesem Prinzip, und zerreißen die organische Ordnung des Wissens durch Magazine, in denen zum Beispiel ein Band mit mittelalterlicher Minnelyrik neben mathematischen Formelsammlungen steht.

Mit der Materialflusswissenschaft des 20. Jahrhunderts wurde das Lager zu jenem Ort erklärt, der Material zum Stillstand bringt, Kapital bindet und deshalb möglichst eliminiert werden sollte. Weltweit werden die alten Lagerhäuser in Lofts, Startup-Büros und Einkaufszentren transformiert. Wo einst Waren lagerten, gehen nun tagsüber Menschen ein und aus und legen sich abends zu Ruhe.

Abbrucharbeiten am Bahnhofskühlhaus Basel

Auch das Basler Kühlhaus ist 2008 abgerissen worden, an der alten Stelle klafft ein Riesenloch. Um die Zukunft der alten Freilagerbrachen streiten nun Stadtplaner, Immobilienentwickler und Politiker.

Es gehört zu den Paradoxien der Moderne, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als unter dem Primat der »Just in time«-Produktion die Lager immer schlanker und die Materialflüsse immer schneller und effizienter wurden, das Risiko von Materialflussstockungen, Güterstaus und des temporären Stillstandes von Produktion und Distribution zugenommen hat.

Dass die langen schlanken Materialflussketten mindestens so verwundbar sind wie Warenlager, war in den Flussdiagrammen der Materialflusswissenschaftler noch nicht vorgesehen.

Mekkas der Moderne

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus

Mekkas der Moderne - ein vergnüglicher Reiseführer durch die globale Welt des Wissens.

Nominiert als "Buch des Jahres" von "Bild der Wissenschaft".

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Tags: Kühlhaus, Schweiz, Speicher