Raketenversuchsanstalt Trauen

Im Jahre 1936 wurde der Österreicher Eugen Sänger, der in Wien bereits erfolgreich Brennkammerversuche durchgeführt hatte, vom Reichsluftfahrtministerium beauftragt, ein Forschungsinstitut für die Luftwaffe aufzubauen. Hauptaufgabe sollte u.a. die Entwicklung neuer Brennstoffkombinationen mit hohen Ausströmgeschwindigkeiten sein. So entstand kurz darauf in Trauen, nahe dem Fliegerhorst Fassberg das Raketenflugtechnische Institut der Luftwaffe. Zur Tarnung wurde offiziell der Name "Flugzeugprüfstelle Trauen" benutzt - auch gegenüber dem Heereswaffenamt(!). Die Anlage war eine ausgelagerte Zweigstelle der LFA (Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring). Der Standort wurde ausgewählt, da die Versuche in Braunschweig-Völkenrode aus Platz- und Geheimhaltungsgründen nicht durchgeführt werden konnten - Trauen lag mitten in der einsamen Heide, aber günstig nah an einem Fliegerhorst.

 

1937, das Institut verfügte hierfür über einen Bauetat von acht Millionen Reichsmark, wurden Wohn- und Bürogebäude, Garagen, Werkstätten, Labore, Hallen und der erste Prüfstand errichtet. Zusammen mit der Berliner Firma Heylandt wurde im Institut die erste Sauerstoff-Großtankanlage (Leistung: 81kg flüssiger Sauerstoff/Stunde, Tankvolumen: 56.000kg) entwickelt und gebaut. Das gesamte Gelände wurde so mit Maschinen und Infrastruktur ausgestattet, daß praktisch autark gearbeitet werden konnte.

Der Prüfstand für das geplante 100.000kp-Triebwerk hatte eine Tiefe von 5m und eine Fläche von 20 x 75m. Die Außenwälle, die ringsum angeschüttet waren, ragten 5m über das Erdniveau hinaus. Etwa in der Mitte war eine zwanzig Meter lange, an beiden Seiten mit Falttoren versehene Prüfhalle angeordnet. Rund um den Prüfstand lagen die Vorratsbehälter und Beobachtungsräume und -Bunker.

Raketenversuchsanstalt TrauenRaketenversuchsanstalt TrauenRaketenversuchsanstalt TrauenRaketenversuchsanstalt Trauen

1943 wurde ein weiterer, kleinerer Prüfstand errichtet, der für Schübe bis 100kp ausgelegt war und der Erprobung von kleineren Triebwerken diente.

Offiziell hatte Sänger sein Büro in Braunschweig, doch dort war er praktisch nie anzutreffen - er verbrachte den Großteil seiner Zeit in Trauen. Etwa 45 wissenschaftliche und rund 35 andere Mitarbeiter bildeten die Belegschaft. Die Gruppe um Sänger, in der auch seine spätere Ehefrau Dr. Irene Bredt arbeitete, entwickelte die ersten Flüssigbrennstoff-Hochdruck-Brennkammern mit Schüben bis zu 1.000 Kilopond. Als Brennstoff kam eine Mischung aus Gasöl und flüssigem Sauerstoff zum Einsatz. Bei der Verbrennung entstanden derartig hohe Temperaturen, daß das Material einfach schmolz. Nachdem dieses Problem gelöst war, wandte sich das Team wieder der eigentlichen Arbeit zu - der Entwicklung und Realisierung eines 100.000kp-Triebwerks für Sängers Vision - einen Raumgleiter.

Der Sänger Raumgleiter
EntwurfEntwurfModell im Windkanal

Dieser Antipodengleiter war eine bahnbrechende Erfindung, die ihrer Zeit weit voraus war. Der rund 28m lange, bemannte Gleiter mit einer Spannweite von 15m sollte auf einer 3.000m langen Schiene auf einem Raketenschlitten eine Geschwindigkeit von ca. 1.800 km/h erreichen und nach dem Abheben mittels Raketenschub auf 300 km Höhe gebracht werden. Das etwa 100 Tonnen schwere Fluggerät sollte dann langsam wieder Richtung Erde gleiten und auf den dichteren Schichten der Atmosphäre, ähnlich wie ein flach über das Wasser geworfener Stein, mehrmals abprallen, um so energiesparend sein Ziel zu erreichen. Die Endgeschwindigkeit war mit 22.100 km/h angesetzt worden.

Für das RLM hieß dieses Ziel natürlich Amerika - man wollte mit Sängers Entwicklung in die Lage kommen, Städte an der Ostküste der USA bombardieren zu können. Geplant war hierfür eine Bombenlast von 3,8 Tonnen. Im Norden des Areals hatte man bereits eine rund 1.000 Meter lange Versuchsanlage projektiert, auch ein Modell im Maßstab 1:100 war bereits erstellt und im Windkanal erfolgreich getestet worden. Mit Beginn des Krieges bekam Eugen Sänger aber Schwierigkeiten mit diesem Projekt, das auf eine Entwicklungszeit von 20 Jahren ausgelegt war.

Sängers Triebwerk war dem der V2/A4 Leistungs- und Effektivitätsmäßig weit überlegen. Zu einem Treffen zwischen Sänger und Wernher von Braun kam es übrigens nur zweimal - die Entwicklungsprogramme waren komplett voneinander getrennt. Eugen Sängers Forschungsbericht mit der Nummer UM-3538 fiel nach dem Krieg (1946/1947) u.a. auch Stalin in die Hände, der daraufhin versuchte, das Ehepaar Sänger, das sich inzwischen in Paris aufhielt, zu entführen - der Versuch mißlang. Erst im Jahr 2001 stellte Astrium das Projekt Phoenix vor, das in vielerlei Hinsicht dem Prinzip von Eugen Sängers Raumgleiter ähnelt.

Parallel zu diesem wohl wichtigsten Projekt beschäftigte man sich in Trauen aber auch mit anderen Entwicklungen. Für einen frühen Düsenjäger begann man Ende 1940 mit der Erprobung und Verbesserung des Staustrahlrohres. Dieser recht primitive Antrieb besteht, kurz gesagt, aus einem Rohr ohne Turbine. Wird es schnell durch die Luft bewegt, staut sich die Luft an einem Verdichtungskegel und wird so vorverdichtet. In der hinter dem Einlaß liegenden Brennkammer wird Treibstoff eingespritzt und das Gemisch gezündet. Da diese Art Triebwerk erst ab einer bestimmten Geschwindigkeit funktioniert bzw. seine Effektivität entwickelt, kamen Versuche auf einem stationären Prüfstand nicht in Frage. Die an ein großes Ofenrohr erinnernde Konstruktion wurde daher zunächst auf einen Opel Blitz montiert, um erste Versuche unternehmen zu können.

Stastrahltriebwerk auf Opel Blitz

Die Tests mit verschiedenen Rohrdurchmessern verliefen zwar erfolgreich, aber aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit des LKW (etwa 120 km/h) nicht zur vollsten Zufriedenheit Sängers. Mit einem 50cm-Rohr, montiert auf dem Rücken einer Do-17z, gesteuert von Paul Spremberg und immer in Begleitung von Sänger, fanden am 6.März 1942 erste Versuche im Fluge statt, zunächst mit ausgeschaltetem Triebwerk. Am nächsten Tag folgte ein erfolgreicher Flug mit eingeschaltetem Staustrahltriebwerk. Als nächstes wurde dann ein größeres Rohr auf einer Do-217E-2 montiert.

Do-217 mit Staustrahltriebwerk

Das "fliegende Ofenrohr" erreichte fast unglaubliche 720 km/h - mit dieser Art Flugzeug! Die Hitzeentwicklung war so heftig, daß ein Teil der oberen Rumpfhaut schmolz, verletzt wurde glücklicherweise niemand. Das RLM in Berlin hatte diese Probeflüge übrigens nicht genehmigt - Sänger hatte sie in Eigenregie vorgenommen. Insgesamt wurden 80 Testflüge durchgeführt, bevor die Versuche ab 10.9.1942 bei der DFS in Hörsching bzw. Ainring weitergeführt wurden.

Ein Kuriosum ist ein ebenfalls in Trauen entwickeltes Gewehr, mit dem man aus der Deckung heraus "um die Ecke" schießen konnte. Hierzu hatte es einen gebogenen Lauf und eine Prismen-Optik. Gegen Kriegsende hatte man ein einsatzfähiges Exemplar als Vorsatzgerät für das MP43/STG44, zur Serienproduktion kam es nicht mehr. Entstanden war es als "Abfallprodukt" aus Sängers Gleitreibungs-Versuchen, die er mit Karabiner-Geschossen in einer Kreisbahn aus U-Profilen unternommen hatte.

Vorsatzgerät für STG44

Da während des Krieges natürlich Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, war die Versuchsanstalt teilweise Selbstversorger - im damals größtenteils ungenutzten Nordteil des Areals hatte man einen Gemüsegarten eingerichtet und hielt dort auch Schafe.

Nach Sängers Weggang wurde die Leitung des Instituts an einen NSDAP-treuen Ingenieur übergeben, der bis dahin weder mit Luftfahrt noch mit Raketenantrieben zu tun gehabt hatte. Sängers 100-Tonnen-Triebwerk wurde eingeschmolzen, das Projekt eingestellt. Professor Sänger wurde zur DFS nach Ainring (Salzburger Land) versetzt, wo er für weniger wichtige Forschungen zuständig war.

Eugen Sänger arbeitete von 1945 bis 1954 als Berater für das Arsénal Aéronautique, die "Société MTR" und die "Nord Aviation" in Paris. In den Folgejahren schrieb er mehrere Bücher und baute in Stuttgart ein Institut für Physik der Strahlantriebe auf und lehrte an der Technischen Universität Stuttgart Raumfahrttechnik. Weniger rühmlich ist sicherlich Sängers Beteiligung an der Entwicklung von Raketen für das ägyptische Militär Anfang der sechziger Jahre. Ab 1963 arbeitete er an der TU Berlin am Lehrstuhl Flugtechnik. Eugen Sänger verstarb am 10.Februar 1964.

Am 16.April 1945 erreichte die britische Armee die Versuchsanstalt Trauen, die kampflos und unbeschädigt übergeben wurde. Die Arbeiten wurden nun unter Leitung des Chemikers Prof. Lufft bis Sommer 1947 für die Alliierten weitergeführt. Danach wurden die Anlagen, soweit möglich, demontiert und ins Ausland verbracht. Die Sauerstoff-Anlage wurde angeblich bereits 1945 von den Briten abgebaut und in Altenwalde für die Operation Backfire (britische Tests der V2-Rakete) benutzt. Die Prüfstände wurden gesprengt, Hallen, Werkstätten und Labors ließ man stehen. Wie in Peenemünde wurden auch hier die wissenschaftlichen Mitarbeiter zum großen Teil von den Westalliierten angeworben.

Nissenhütte während der Luftbrücke

1948/1949 entstand ein riesiges Nissenhütten-Lager auf dem Gelände in Trauen, in dem die Arbeiter der German Civil Labour Organization (GCLO, ab 1949 GSO) für den Luftbrückeneinsatz auf dem Fliegerhorst Fassberg untergebracht waren. Diese Nissenhütten wurden 1961 abgerissen und durch ein Zeltlager ersetzt. Von 1956 bis 1958 wurde das Areal als Lager für britische Truppen benutzt, am 1.April 1958 ging es wieder in deutsche Verwaltung über. Im Mai 1959 zogen die ersten Wissenschaftler der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt e.V. (später DFVLR, heute DLR) wieder ein. Es entstanden neue, kleinere Triebwerks-Prüfstände. Man erforschte jetzt sowohl Flüssig- als auch Feststoffantriebe, entwickelte Teile des ELDO-Programms und die dritte Stufe der Europa-Rakete I. Die auf dem Gelände ansässige Firma ERNO lieferte die Lage- und Bahnregulierung für den Fernseh-Satelliten Intelsat III. 1969 wurde der Staustrahltriebwerks-Höhenprüfstand in Betrieb genommen, mit einem Windkanal von 70 x 70 cm und Strömungsgeschwindigkeiten von Mach 2-3,5 damals der größte Europas.

Der sog. Viererblock-Prüfstand

Daneben gab es unterschiedlichste andere Forschungsprojekte, so beispielsweise auch im Bereich Brandschutz. Es wurde z.B. ein ausgedienter F-104 Starfighter in einem mit Kerosin befüllten, flachen Pool gestellt und dieser entzündet. Man wollte herausfinden, wie lange ein Mensch in der Kanzel unter diesen Bedingungen überleben konnte. Schon nach wenigen Sekunden erreichte die Temperatur im Bereich der Pedale 400°C, wenig später begann das Material im Bereich der Kabinenfenster zu schmelzen.

Bei den unterschiedlichen Triebwerksversuchen kam es einige Male zu kleineren Unfällen, glücklicherweise immer ohne Verletzte. So flog im Laufe der Jahre so manches Triebwerksteil über das Gelände, Sandwälle wurden weggeblasen oder sogar Triebwerksstände nahezu zerstört. Auch Spionagefälle soll es gegeben haben, über die wir aber aus Datenschutzgründen nichts Näheres erfahren konnten.

Europa 1 - dritte Stufe
PrüfstandPrüfstandTreibstofflaborELDOVerdichterpumpenStaustrahlrohreVerdichtergebäudeVersuchsmujster

Von den Anlagen aus Sängers Zeit in Trauen sind einige Gebäude komplett und fast im Originalzustand erhalten, andere wiederum nur als Trümmer. Hier einige Beispiele:

Sängers ehemaliges Bürogebäude

HalleFahrzeugunterstandWasserwerkMesseMesseFeinmechanik-WerkstattReste des gesprengten PrüfstandsReste des gesprengten PrüfstandsReste des gesprengten PrüfstandsReste des gesprengten PrüfstandsReste des gesprengten PrüfstandsReste des gesprengten Prüfstands

Heute wird das Gelände hauptsächlich von Astrium, der DLR, der Firma Hazard Control und ein Teil als Truppenlager der Bundeswehr bzw. NATO genutzt. Entwickelt wird u.a. in den Bereichen Neutronengeneratoren (FusionStar), Rettungssysteme für U-Boote (RESUS), technische Experimente unter Schwerelosigkeit (TEXUS), mobile Schadstoffverbrennungsanlagen (MOVA) Umwelttechnik und natürlich weiterhin Luft- und Raumfahrt. Das Gelände ist militärischer Sicherheitsbereich und darf nicht betreten werden!

Quellen (Auszug):
- Luftfahrtforschung, Luftfahrtindustrie und Luftfahrtwirtschaft in Braunschweig, DGLR
- Der Weg zu den Sternen, H. E. Sänger
- Eugen Sänger und der Raumtransporter von übermorgen
- Vom Höhenaufklärer bis zum Raumgleiter, Horst Lommel
- Die heimliche Raketenmacht, Jürgen Scheffran
- Fassberg, Hans Stärk
- 50 Jahre REUSS - Eine Dokumentation, Arno L. Schmitz
- Patentschrift DE 716175
- Archiv Sänger
- DLR Trauen
- Archivmaterial der Gedenkstätte Luftbrücke, Faßberg
- Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring, Hermann Blenk
- Fotos aus dem Archiv J.Jochmann
- Unterlagen des Niedersächsischen Landesamtes für Ökologie
- Unterlagen aus dem Archiv T.Wolf, Stedden
- Aussagen von Anwohnern und Zeitzeugen
- Archiv T.Wolf, Stedden
- eigene Recherchen

An dieser Stelle danken wir besonders dem Archiv Sänger, der DLR Trauen und der Standortverwaltung Munster, ohne die dieser Artikel nicht möglich gewesen wäre.

Tags: Rüstung, V-Waffen